Opposition niedergeschlagen
Ein geflügeltes Wort macht in Belarus die Runde: „Damit Belarus nicht in den Händen von Lukaschenko bleibt, fülle deine linke Hosentasche mit Sand und deine rechte mit Salz.“ Denn der zentrale Platz in Minsk ist zu einer vorweihnachtlichen Eislaufbahn geworden. Salz und Sand wollten junge Aktivisten mitnehmen gegen das Ausrutschen bei der Demonstration am Sonntagabend. Es nützte ihnen nichts. Die Polizei ging brutal gegen mehr als 10.000 Demonstranten vor, die trotz Verbots gegen die Wiederwahl von Präsident Alexander Lukaschenko protestieren. Sicherheitskräfte trieben den Protestzug mit Schlagstöcken auseinander und nahmen etliche Regimegegner fest.
Wenige Stunden zuvor hatte sich Irina Gubskaja noch geschäftig über ihren Laptop gebeugt. „Im Gebiet Witebsk haben sie einige unserer Aktivisten festgenommen. Sie waren auf dem Weg hierher“, sagt sie zwischen zwei Telefonaten. Sie will die Nachricht noch schnell online stellen und an unabhängige Journalisten weitergeben. Irina Gubskaja ist Wahlkämpferin im Team des Christdemokraten Witalij Rymaschewskij, der am Abend krankenhausreif geschlagen wird. Er war einer der neun Kandidaten, die versucht hatten, den seit 16 Jahren autoritär regierenden Alexander Lukaschenko herauszufordern.
Irina Gubskaja hat monatelang für den vergangenen Sonntag gearbeitet. Sie hat Unterschriften gesammelt, mehrere Tausend Umschläge mit Wahlprogrammen verschickt und ihre Mitstreiter per Internet auf dem Laufenden gehalten. Der Wahlsonntag ist der Höhepunkt eines Kampfes, der ihrer Meinung nach nie zu gewinnen war. „Aber er ist es dennoch wert gekämpft zu werden!“, sagt sie mit Nachdruck.
Dabei hatte der Kampf unerwartet erfolgreich begonnen. „Die Registrierung der Kandidaten lief überraschend demokratisch ab“, sagt Irina Gubskaja. Inklusive Lukaschenko wurden zehn Kandidaten zur Wahl zugelassen, sie durften jeweils eine Stunde unzensiert im Radio und im Fernsehen auftreten. Auch eine Verhaftungswelle wie vor den Wahlen 2006 war zunächst ausgeblieben. Doch in der aktuellen Berichterstattung wurde über die Oppositionskandidaten nicht mehr oder nur noch negativ berichtet, Lukaschenko hingegen trat fast jeden Abend im Fernsehen auf.
Bereits in der Woche vor dem Wahlsonntag konnten die Belarussen ihre Stimme abgeben, auffallend häufig wurden sie mit Durchsagen in der U-Bahn und im Einkaufszentrum daran erinnert. Die Opposition und belarussische Wahlbeobachter kritisieren, dass bei der frühzeitigen Stimmabgabe die Gefahr von Stimmfälschungen besonders groß sei.
Über wie viel Unterstützung im Volk Lukaschenko wirklich verfügt, darüber lässt sich nur spekulieren. In offiziellen Umfragen lag er zuletzt bei rund 75 Prozent, das unabhängige Forschungsinstitut IISEPS kam im Oktober dagegen auf knapp unter 50 Prozent – ein entscheidender Unterschied, denn wenn kein Kandidat 50 Prozent der Stimmen auf sich vereinen kann, ist eine Stichwahl vorgesehen. „Wie viele tatsächlich für Lukaschenko gestimmt haben, werden wir nie herausfinden“, meint Irina Gubskaja. Laut Wahlleitung soll der Präsident am Sonntag 79,67 % der Stimmen erhalten haben.
Irina Gubskaja bindet sich den leuchtend gelben Schal enger um den Kopf. Es ist dunkel geworden, rund zehn Grad minus, leichter Schneefall. Im Palast der Republik läuft die erste Pressekonferenz nach Schließung der Wahllokale. Alles sei seinen geordneten Gang gegangen, erklärt die Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission. Ein Journalist tritt ans Mikrofon: „Vor einer Stunde wurde einer der Präsidentschaftskandidaten von der Polizei bewusstlos geschlagen, er liegt im Krankenhaus.“ Das liege nicht in der Kompetenz der Wahlkommission, erwidert die Vorsitzende barsch und das Thema ist abgehakt.
In der Minsker Innenstadt versammeln sich derweil fast 20.000 Menschen. Auch Irina Gubskaja ist dabei. Am Nachmittag hat sie versucht, weitere Mitstreiter zu mobilisieren, dann brachen die meisten Seiten der E-Mail-Provider zusammen. Viele junge Menschen sind gekommen, die Stimmung ist friedlich. Immer wieder tönen Sprechchöre: „Es lebe Belarus!“ Die Menge zieht am KGB-Gebäude vorbei Richtung Regierungsgebäude. „Mir tut es leid für all diejenigen, die zu viel Angst hatten, heute Abend zu kommen“, sagt Irina. Wenig später eskaliert die Demonstration. Oppositionskandidat Wladimir Nekljajev liegt da schon bewusstlos im Krankenhaus. Aufgebrachte Demonstranten zerschlagen die Scheiben des Parlamentsgebäudes, die Polizei löst die Versammlung mit Gewalt auf.
„Der Anschein von Demokratie hat in dem Moment aufgehört, in dem die Wahllokale schlossen“, sagt Irina Gubskaja später am Telefon. Mit rund 70 anderen Demonstranten sitzt sie in einer Polizeistation. Auch sieben der neun Präsidentschaftskandidaten wurden festgenommen. Gubskaja rechnet damit, für ein paar Tage in Gewahrsam zu sein – solange, bis der Ärger der Menschen verpufft ist.