"Die Mehrheit hat das System satt" / Interview mit Oppositionskandidat Andrej Sannikau
Andrej Sannikau wurde 1954 in Minsk geboren. Er arbeitete für die Vereinten Nationen in New York und bei der belarussischen Vertretung der Schweiz. In den 90er Jahren war er stellvertretender Außenminister von Belarus. 1997 begründete er die Oppositionsbewegung und Website „Charter 97“. Bei weißrussischen Wahlen protestiert er seither regelmäßig gegen Manipulationen. Für seine politischen Aktivitäten wurde er mehrfach festgenommen und inhaftiert.
Andrej Sannikau gilt als einer der profiliertesten Gegner des belarussischen Präsidenten Lukaschenko. Der ehemalige Vize-Außenminister ist seit 15 Jahren in der Opposition. 1997 gründete er die Oppositionswebsite „Charter 97“. Er räumt sich zwar keine großen Chancen gegen Lukaschenko ein, beobachtet aber einen Machtverlust des Präsidenten. Sannikau plädiert für mehr internationale Härte gegen Lukaschenko.
ostpol: Sie sind seit 1997 aktiv in der belarussischen Opposition, klagen regelmäßig Wahlfälschung an und waren mehrfach inhaftiert. Was bewegt Sie, weiter politisch aktiv zu sein?
Andrej Sannikau: Es liegt auf der Hand, das Leben iverändern zu wollen. Ich war in der Regierung, habe in den Neunzigern aus Protest gegen den undemokratischen Kurs mein Amt aufgegeben, habe mich in der Zivilgesellschaft engagiert, bei vorangegangenen Wahlen mit anderen Kandidaten zusammengearbeitet. Das hat mich enttäuscht. Jetzt trete ich selbst an.
Sehen sie denn eine Chance für sich, die Wahlen gewinnen zu können?
Sannikau: Ich sehe eine realistische Chance. Aber die Menschen müssen sich dazu durchringen, auch zu sagen, dass sie keine Diktatur mehr wollen. Die Menschen sind nicht naiv. Sie wissen, dass ihre Stimmen nicht gezählt werden. Die große Mehrheit hat das gegenwärtige System satt.
Also gibt es ein Potenzial für Protest?
Sannikau: Die Stimmung geht in Richtung Veränderung. Wir haben heute ein weitaus größeres Protestpotenzial als bei den Wahlen 2006. Es ist anders heute.
Wo sehen Sie Belarus? Näher an Russland oder an der EU?
Sannikau: Ich sehe Belarus in Europa – in strategischer Partnerschaft mit Russland. Die Welt hat sich verändert. Weißrussland muss sich nicht mehr zwischen Europa und Russland entscheiden. Zwischen Russland und der EU entwickelt sich gerade jetzt eine Menge. Heute geht es vor allem um Modernisierung.
Aber dennoch schafft es die Opposition nicht, sich auf einen Kandidaten zu einigen.
Sannikau: Wir haben gesehen, was geschehen ist, als die Opposition nur einen Kandidaten ins Rennen geschickt hat. 2006 haben viele Wähler diesem Kandidaten die Unterstützung versagt. Heute haben wir eine Reihe Kandidaten in einem sehr breiten politischen Spektrum. Wir haben hier ein limitiertes Budget pro Kandidat, auch die Redezeiten im Fernsehen sind sehr begrenzt – zwei mal 30 Minuten pro Kandidat im Fernsehen und Radio. Jetzt haben wir neun Kandidaten – und jede einzelne reist durchs Land und mobilisiert seine Wähler. Wir haben einen Stillstand erlebt, indem wir uns auf einen Kandidaten festgenagelt haben.
Welche Rolle spielt der Angst-Faktor in diesem Land, wenn es um Wahlen und Protest geht?
Sannikau: Er ist da – aber es verschwindet. Als wir begonnen haben, Unterschriften für unsere Registrierung zu sammeln hat das sehr langsam angefangen. Am Ende haben die Leute Schlange gestanden, um ihre Unterschrift abzugeben. Die Menschen erinnern sich an die frühen 90er Jahre. Das war die kurze Zeit, als Lukaschenko noch nicht an der Macht war und sich alles zu verändern schien.
Aber was denken Sie, würde der amtierende Präsident eine Wahlniederlage eingestehen und das Amt räumen?
Sannikau: Das würde er nie machen. Diktatoren erlauben es den Menschen nicht, ihre Führer selbst zu wählen. Nur die Weißrussen selbst können eine Veränderung des Systems bewerkstelligen. Da gibt es nur die Macht der Straße, sonst nichts.
Und ein gewisses Potenzial, Straßenproteste gewaltsam niederzuschlagen.
Sannikau: Das existiert, natürlich. Menschen sind verschwunden, Journalisten wurden ermordet – was nachher als Selbstmord dargestellt wurde.
Was kann die internationale Gemeinschaft tun, um etwas an der Lage zu verändern?
Sannikau: Was wir erwarten, ist eine starke Unterstützung der Opposition. Was wir sehen ist etwas anderes. Da spielen Lobbys und wirtschaftliche Interessen eine zu große Rolle im Umgang des Westens.
Auf der anderen Seite scheint Russland seine Position gegenüber Lukaschenko zu überdenken. Die Unterstützung der letzten Jahre ist geschwunden, Russland macht Druck mit Medienkampagnen und droht mit höheren Energiekosten.
Sannikau: Was Russland sagt, ist, dass Lukaschenko korrupt ist und Oppositionelle auf dem Gewissen hat. Ich denke, dass die Russen ihn nicht mehr unterstützen werden. Es werden höhere Gaspreise kommen, die Schulden bei Russland sind hoch. Wir können sie nicht zahlen. Moskau möchte Lukaschenko loswerden, er wird nicht mehr als Partner angesehen.
Lukaschenko beschuldigt Sie, als Oppositionskandidat würden Sie auf illegale Weise von russischer Seite gesponsert.
Sannikau: Nein, das werde ich nicht. Lukaschenko wird von Russland gesponsert.