Zuckerbrot und Peitsche: Das System Lukaschenko
Andrej Kim hat es eilig. „Da drüben sitzt übrigens der Präsident“, sagt er und zeigt im Vorübergehen auf den Präsidentenpalast, ein quadratischer Klotz aus kühlem Stein. Er hebt die Augenbrauen, schüttelt fast unmerklich den Kopf und hastet weiter. Andrej Kim war nach den Präsidentenwahlen vor vier Jahren mit Tausenden auf die Straße gegangen, um gegen Manipulationen zu protestieren. Wie viele andere wurde er verhaftet und tagelang festgehalten, doch er macht weiter: „Man kann Angst bekommen. Oder man kann anfangen, etwas zu ändern“, sagt er.
Andrej Kim ist Graswurzelaktivist: Zusammen mit Freunden betreibt er eine Internetseite, auf der sie ganz alltägliche Aktivitäten wie einen Kinoclub oder ein gemeinsames Frisbee-Training ankündigen. Doch in einem autoritär regierten Land wie Belarus ist das durchaus außergewöhnlich. „Ich will den Leuten zeigen, dass sie selbst etwas machen können, dass sie Initiative ergreifen können“, erklärt der 24-Jährige. Er hat die Haarlänge Che Guevaras. Das Wort Politik nimmt er dabei lieber nicht in den Mund. Das würde zu viele abschrecken in einem Land, in dem die Menschen ihre politische Meinung nur unter freiem Himmel äußern – aus Angst, dass jemand mithören könnte.
Aktivist Kim ist eine Ausnahme. Das zeigen aktuelle Umfragen. Der Soziologe Oleg Manaev ist Gründer des unabhängigen Forschungsinstituts IISEPS, das inzwischen von der litauischen Hauptstadt Vilnius aus arbeitet. In zahlreichen Erhebungen hat er die Stimmung der belarussischen Bevölkerung erforscht. Manaev glaubt nicht, dass die junge Generation es schaffen kann, einen Umschwung anzutreiben. „In den neunziger Jahren gab es noch Massenproteste der Jungen und der Studenten. Aber als Reaktion hat Lukaschenko erfolgreich ein System von Zuckerbrot und Peitsche installiert“, so das Fazit des Soziologen.
Olga Schapovalova ist Teil dieses Systems. Eigentlich ist sie gelernte Englischlehrerin, doch auch ihr aktueller Job hat mit Sprache zu tun, mit der Sprache des optimistischen Aktionismus und patriotischer Parolen. „Wir brauchen verantwortungsbewusste Bürger, die ihre Heimat lieben“, sagt sie, und: „Jeder Einzelne kann etwas bewegen!“ Sätze, die auch Andrej Kim sagen könnte, doch die beiden Mittzwanziger sind Welten voneinander entfernt: Andrej Kim arbeitet gegen das Regime, Olga Schapovalova macht im System Karriere. Seit drei Jahren ist sie Chefin des BRSM-Büros ihrer Universität. BRSM, so die Abkürzung der staatlichen Jugendorganisation, in der Lukaschenko die 14- bis 31-Jährigen des Landes vereint sehen will: rund 70 Prozent der Studenten kennen den Jugendverband, um die 30 Prozent von ihnen sind BRSM-Mitglieder.
Flaggezeigen zum
Jubiläum der staatlichen Jugendorganisation BRSM / Andrey Davydchyk, n-ost
Eine Übermacht, gegen die nur schwer anzukommen ist. Andrej Kim ist auf dem Weg zu einer von Studenten organisierten Filmvorführung. Als er am Seminarraum ankommt, blickt er in ratlose Gesichter: Der Raum ist schon belegt. Es sollte ein Film auf belarussisch gezeigt werden, im Gegensatz zum Russischen gilt sie als die Sprache der Opposition. Schnell kommt unter den Studenten der Verdacht auf, dass die Universitätsleitung interveniert hat, um die Vorführung zu verhindern. „Darüber will ich lieber nicht nachdenken“, sagt Kim, „sonst würde ich nur verzweifeln.“ Zu der Filmvorführung kamen gerade mal 15 Studenten.
Das BRSM-Büro liegt im ersten Stock der Universität. Olga Schapovalova trägt High Heels zum Kostüm und steckt mitten in den Vorbereitung zum großen Jubiläum: 90 Jahre wird der staatliche Jugendverband alt - wenn man die Jahre der kommunistischen Komsomolzen mitrechnet. Aus einer prall gefüllten Tüte zieht sie Halstücher und Schirmmützen in den BRSM-Farben: Gelb auf rotem Grund, eine goldene Ähre weckt Erinnerungen an den sowjetischen Arbeiter- und Bauernstaat. „Schaut her, die gebe ich nicht mehr her!“, ruft sie den anwesenden Studenten zu. Pflichtschuldige Begeisterung kommt zurück. Heute erfahre sie, wie viele ihrer Studenten bei der Feier dabei sein sollen, erzählt sie. Zur Sicherheit werden sie am großen Tag in Bussen herbeigefahren.
„Die Mehrheit steht zwischen diesen Extremen“, sagt der Soziologe Manaev. Also zwischen den aktiven Gegnern und den aktiven Befürwortern des Systems. Das sei die große Menge derer, die sich auf ihr Privatleben konzentrieren und die Augen vor den politischen Realitäten verschließen. „Das Entscheidende ist: Auch diese Gruppe hält sich an die Regeln, das ist der Erfolg des Systems. Sie sehen die Grenzen rechts und links ganz genau.“ Und die Angst, diese Grenzen zu überschreiten, sei groß.
So kontrolliert der Staat den Zugang zu den Universitäten und dank einer dominierenden Staatswirtschaft auch den Zugang zu den meisten Arbeitsplätzen. Der Aktivist Andrej Kim hat die Strenge des Systems zu spüren bekommen: Nach seiner Verhaftung flog er von der Universität, konnte sein Geschichtsstudium nicht abschließen, seitdem schlägt er sich mit Gelegenheitsjobs durch.
Erst zu den Pionieren, dann zur staatstreuen Studentenorganisation. Das System funktioniert noch immer / Andrey Davydchyk, n-ost
Die BRSM-Funktionärin Schapovalova hat eine junge Studentin zum Gespräch dazu geholt. Tanja ist 19 Jahre jung und studiert Deutsch. Sie interessiere sich für Politik, sagt sie. Ihre Mutter kommt aus der Ukraine. Zu Hause werde viel über die Zustände dort gesprochen. „Die Politik unseres Landes gefällt mir besser, hier herrscht Stabilität“, sagt sie mit Überzeugung. Und wie steht sie zur Opposition? Bei dieser Frage scheint der jungen Frau der Atem zu stocken, erschrocken schaut sie zu Olga Schapovalova, will die Frage zunächst nicht verstanden haben. Schließlich presst sie hervor: „Ich stehe in gar keinem Verhältnis zur Opposition.“ Viele der Grenzen sind unsichtbar und dennoch ganz klar abgesteckt.