Polen

Brandts Dolmetscher erinnert sich

Eingeplant war der Abstecher Willy Brandts zum Warschauer Ghetto am 7. Dezember 1970 nicht, erst drei Tage vorher informierte der deutsche Kanzler die polnischen Gastgeber über seine Pläne. Doch die sieben Minuten, die Brandt am Denkmal verbrachte, veränderten die deutsch-polnische Geschichte. Sein Dolmetscher erinnert sich im Interview, wie Brandt es schaffte, die Vorbehalte der polnischen Staatsspitze zu zerstreuen – und sogar ein Lächeln auf das strenge Gesicht des polnischen Parteichefs Gomulka zu zaubern.

ostpol: Das Foto des knienden Kanzlers Brandt wurde zum Symbol der deutsch-polnischen Beziehungen. Doch beinahe wäre es gar nicht dazu gekommen.

Mieczyslaw Tomala: Das stimmt, der Besuch im Ghetto war nicht geplant, Brandt kündigte ihn erst drei Tage vor seiner Ankunft an. Normalerweise besuchten ausländische Staatsgäste nur das „Grab des unbekannten Soldaten“. Also wurde für Brandt ein Abstecher zum Ghetto eingeschoben. Genau sieben Minuten waren dafür vorgesehen. Man dachte, Brandt würde Blumen niederlegen und gleich weiterfahren. Dass diese sieben Minuten die Geschichte verändern würden, ahnte niemand.

Wie reagierte die polnische Seite?

Tomala: Die polnische Delegation wartete im Namiestnikowski Palast, dem heutigen Sitz des Präsidenten, wo Brandt einen Grenzvertrag unterschreiben sollte. Die Nachricht von seinem Niederknien  beeindruckte seine Gastgeber tief, das war deutlich zu spüren. Ein kniender Regierungschef – so etwas sieht man nicht alle Tage. Die Ehefrau des Ministerpräsidenten Cyrankiewicz soll in Tränen ausgebrochen sein, als sie Freunden am Telefon davon erzählte.

Wie wurde Brandts Geste in Polen berurteilt?

Tomala: Ganz unterschiedlich. Es gab Polen, die sich darüber empörten, dass Brandt vor dem Denkmal im ehemaligen jüdischen Ghetto kniete und nicht vor dem „Grab des unbekannten Soldaten“, dem Denkmal für das Leid aller Polen. Die Mehrheit aber verstand Brandts Geste als eine allgemeine Entschuldigung für die Verbrechen der Nationalsozialisten – an Polen und an Juden gleichermaßen.

Ein Schritt zu Versöhnung?

Tomala: So weit würde ich nicht gehen. Heute interpretiert man es so, als hätten die Polen damals das „andere Deutschland“ kennen gelernt. Doch von einer echten Euphorie konnte kaum die Rede sein. Viel wichtiger war den meisten Polen der Vertrag, in dem die Bundesrepublik Deutschland die Oder-Neiße-Grenze offiziell anerkannte. Das Bild der Unterzeichnung ging später durch alle Medien, das Bild des Kniefalls nicht. Anders als heute oft behauptet wird, erfuhren die Polen aber sehr wohl davon, die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Ihr wurde nur viel weniger Bedeutung beigemessen als heute.


Mieczyslaw Tomala, geboren 1921 in Lodz, ist ein polnischer Diplomat und Deutschlandspezialist. 1949-1991 leitete er die Deutschland-Abteilung am polnischen Institut für internationale Angelegenheiten. Als Übersetzer arbeitete er an der Vorbereitung des deutsch-polnischen Vertrages mit und dolmetschte während des Besuchs von Willy Brandt im Dezember 1970. Wegen seines deutschfreundlichen Standpunktes wurde er nach 1970 nicht mehr mit ähnlichen Themen betraut. Tomala ist mit einer Deutschen verheiratet und engagiert sich für die deutsch-polnische Versöhnung. Sein jüngstes Buch trägt den Titel „Deutschland, meine Leidenschaft“.


Brandt war der erste westdeutsche Politiker, der Polen besuchte. 25 Jahre nach Kriegsende waren die schmerzhaften Erinnerungen noch sehr präsent. Spürte man das bei dem Treffen?

Tomala: Das Misstrauen Deutschen gegenüber war sehr stark, nicht nur durch den Krieg. Dass die Deutschen die Grenze auch lange nach ihrer Niederlage nicht anerkannten, verunsicherte viele. Die Deutschen waren damals die unbeliebteste Nation in Polen – und zwar, entgegen der offiziellen Linie, sowohl Ost- als auch Westdeutsche. Obwohl auch die polnischen Eliten dieses Misstrauen hegten – Ministerpräsident Cyrankiewicz war in Auschwitz, Parteichef Gomulka wäre von deutschen Kommunisten fast an die Nazis ausgeliefert worden –, verhielten sie sich Brandt gegenüber freundlich, sie setzten auf Normalisierung.

Ein günstiger Boden für Brandt?

Tomala: Wichtig war, dass sich Willy Brandt in Warschau nicht nur als Kanzler zeigte, sondern als Mensch. Das Erste, was er sagte, als er in die Limousine am Flughafen einstieg, war: „Meine Großmutter war Polin“. Ministerpräsident Cyrankiewicz verstand seine Botschaft: „Ich komme als Freund“. Von negativen Emotionen oder gar frostiger Stimmung war während der Gespräche nichts zu spüren. Die Atmosphäre war locker, fast freundlich. Als ich später die Fotos der Unterzeichnung sah, fiel mir auf, dass ich keine anderen offiziellen Fotos kenne, auf den der sonst so zugeknöpfte Gomulka lächelt.

ostpol: Nach der erfolgreichen Unterzeichnung begannen die Probleme: Die Ratifizierung des Vertrages zog sich hin, über Brandts Geste wurde kaum noch gesprochen.

Tomala: Ein paar Tage nach Brandts Besuch kam es in Polen wegen Preiserhöhungen zu Protesten und Ausschreitungen. Gomulka und Cyrankiewicz wurden gestürzt und der Einfluss der nationalen Kommunisten, die stark deutschlandfeindlich eingestellt waren, stieg. Wäre das nicht passiert, hätten sich unsere Länder vielleicht schneller miteinander versöhnt. Die positive Stimmung nach dem Besuch von Brandt wurde lange Zeit nicht richtig genutzt.


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