Polen

Brandts Kniefall kaum bekannt

Mächtig steht es da, ragt elf Meter hoch in den Warschauer Himmel. In Stein gemeißelte Gesichter von Männern, Frauen und Kindern mit Pistolen und Granaten in den Händen sehen ihrem letzten Kampf entgegen: Das Denkmal für die Helden des Aufstandes im Warschauer Ghetto von 1943 im Zentrum der polnischen Hauptstadt. Es ist der Ort, an dem der ehemalige deutsche Bundeskanzler Willy Brandt 1970 niederkniete, um der ermordeten Juden und anderer Opfer des Zweiten Weltkriegs zu gedenken, und um Verzeihung zu bitten. Das Bild ging um die Welt, in Deutschland kennt es heute fast jeder.

Etwa 100 Meter nordwestlich vom Ort des Kniefalls erinnert seit dem Jahr 2000 eine Gedenkplakette an das Ereignis. Trotzdem wissen nur wenige Polen von dem Kniefall. „Ich kenne diese Geste nicht wirklich“, sagt etwa Krystyna Karwicka-Rychlewicz. Obwohl die Warschauerin und Journalistin den Platz gut kennt, zeit ihres Lebens in Warschau lebt, und schon den Zweiten Weltkrieg miterlebt hat. „Irgendwas über den Kniefall ist mir mal zu Ohren gekommen“, räumt die 70-Jährige ein. Sie kennt auch den Platz, auf dem das Denkmal steht, hat eine jüdische Freundin, die heute in Jerusalem lebt. Aber wirklich präsent sei Brandts Kniefall in Polen nicht, sagt sie.

Willy Brandt ist in Polen nicht unumstritten

„Das Bild des knienden Kanzlers hat in der polnischen Gesellschaft jenseits der oppositionellen und intellektuellen Kreise nicht funktioniert“, bestätigt auch Krzysztof Ruchniewicz. Der Geschichtsprofessor ist Experte für deutsch-polnischen Beziehungen an der Universität Wroclaw (Breslau), und zwar am Willy-Brandt-Zentrum für Deutschland- und Europastudien. Das Zentrum wählte Brandt als Namenspatron, weil er für Frieden, Zusammenarbeit und Verständigung stehe. Innerhalb der polnischen Bevölkerung, sagt Ruchniewicz, sei Brandts Geste und deren Bedeutung für die Ostpolitik aber kaum bekannt. Das liege zum einen daran, dass das Bild des knienden Bundeskanzlers damals der Zensur zum Opfer fiel: Die einzige Zeitschrift in Polen, die das Bild 1970 komplett und unzensiert zeigte, war die jüdische Volksstimme, eine Publikation für die kleine jüdische Gemeinschaft in Polen. Die kommunistischen Machthaber zensierten das Bild ansonsten, zeigten nur den Rumpf Brandts, und ließen nicht zu, dass das Bild des reuigen Deutschen Thema wurde. Denn es passte nicht in die offizielle Propaganda der angeblich immer noch imperialen Deutschen – und des Klassenfeindes. „Später wurde das Bild sogar so bearbeitet, dass es aussah, als würde Brandt vor einem polnischen Soldaten knien“, sagt Ruchniewicz. Den knienden Brandt finden polnische Schüler erst seit 1989 in den Geschichtsbüchern.

Auch das Bild Brandts als Wegbereiter der Ostpolitik und der Annäherung mit dem Ostblock ist in Polen nicht unumstritten. Polnische Intellektuelle, Oppositionelle und Wissenschaftler  bewerteten und bewerten Brandts Kniefall sowie seine Ost- und Polen-Politik zwar als wegweisend. „Brandt war faktisch der erste Kanzler, der überhaupt begonnen hat, sich mit Polen auseinanderzusetzen“, sagt Ruchniewicz. In einigen Kreisen ist sein und das Bild der deutschen Sozialdemokratie aber getrübt. Denn in den 1980er Jahren unterstütze die SPD die Oppositionsbewegung Solidarnosc um Lech Walesa nicht, um den eigenen Kurs der Annäherung an den kommunistischen Osten nicht zu gefährden. Diese mangelnde Unterstützung tragen führende Persönlichkeiten dem SPD-Kanzler heute noch nach, auch der jetzige Deutschland-Beauftragter der polnischen Regierung Władyslaw Bartoszewski.

Viele Polen verbinden mit der Annäherung an den Westen ohnehin nicht den Kniefall, sondern ein anderes Bild: die Umarmung des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl und des ersten nicht-kommunistischen Premiers Polens Tadeusz Mazowiecki nach einer Versöhnungsmesse im polnischen Krzyżowa (Kreisau) am 12. November 1989, nur drei Tage nach dem Fall der Mauer. Dieses Bild kam sofort in alle polnischen Medien – unzensiert.


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