Prothesen für ein zerbrochenes Land
„Du willst wohl eine Riesin werden“, sagt Emil Bender und reicht der zehnjährigen Indira zur Begrüßung die Hand. Schon zum dritten Mal in diesem Jahr braucht das Mädchen eine neue Beinprothese, um den Längenunterschied zwischen ihrem angeborenen verkürztem und dem gesunden Bein auszugleichen. Indira setzt sich routiniert auf den Holzhocker in seiner Werkstatt. Sie zieht ihre Hose aus, schnallt die Prothese ab und streckt Emil Bender Bein und Stumpf zum Ausmessen hin. „Ich kann jetzt schon zwei Stufen auf einmal nehmen“, erzählt sie, noch atemlos vom Treppensteigen.
Seit mehr als zehn Jahren arbeitet Emil Bender mit kleinen und großen Patienten in seiner Werkstatt im bosnischen Städtchen Kljuc. Er misst Gliedmaße, macht Gipsabdrücke, schleift, bohrt und glättet Kanten. Alles ohne formelle Ausbildung. Sein Wissen geht auf ein zweijähriges Praktikum in einer Potsdamer Orthopädiewerkstatt zurück. Damals kam er als Kriegsflüchtling nach Deutschland, durfte jedoch keinen Berufsabschluss als Orthopädietechniker machen.
Emil Bender weiß, wie es ist, plötzlich mit einer Prothese leben zu müssen. Er verlor im Bosnienkrieg seinen linken Unterschenkel und ein Auge. Als Soldat sollte er ein Minenfeld entschärfen - und trat dabei selbst auf eine Mine. Nur mit Mühe konnte er sich aus dem Feld retten. „Trotzdem - ich habe Glück gehabt“, sagt der 39jährige rückblickend. Sein Auge konnte durch Notoperationen in Deutschland gerettet werden. Und seine Prothese wurde so gut angepasst, dass er beim Aufwachen anfangs den fehlenden Unterschenkel vergaß und aus dem Bett fiel.
Emil Bender beim Bauen einer Prothese. / Katrin Lechler, n-ost
Was 1992 mitten im Bosnienkrieg passierte, ist heute jederzeit wieder möglich, mitten im Frieden: Wenn Kinder im Freien spielen, bei Ausflügen oder bei landwirtschaftlichen Arbeiten, beim Holzholen im Wald. Die Armeen der Serben, Bosnier und Kroaten ließen bei ihrem Abzug 1995 ungezählte Minenfelder zurück – zum einen, weil sich die Frontlinien im Krieg ständig verschoben und mit immer neuen Minenstreifen abgesichert wurden. Zum anderen, weil keiner die Verlegung der Antipersonen-Minen vollständig dokumentiert hat.
Nach Angaben der Vereinten Nationen sind 3,7 Prozent der Landesfläche vermint – damit ist Bosnien und Herzegowina eines der am stärksten verminten Länder der Welt. Zwar treten nach jahrelanger Aufklärung in Schulen und in ländlichen Regionen, die besonders betroffen sind, immer weniger Menschen auf Landminen. Doch die Gesamtzahl der Invaliden steigt mit jedem neuen Unfall. Es sind vor allem Kinder, Landwirte, aber auch Minenräumer. Seit Kriegsende bis 2009 gab es rund 1700 Minenunfälle, knapp 500 davon waren tödlich. Auch internationalen Organisationen ist es nicht gelungen, Bosnien und Herzegowina wie geplant bis 2009 minenfrei zu machen.
Doch der hohe Bedarf an Prothesen ist nur unzureichend gedeckt. „Ein Polio-Patient bekommt einmal in seinem Leben eine Prothese. Wenn die kaputt geht, hat er Pech gehabt“, erzählt Christian Schlierf vom Verein Human Study mit Sitz in Nürnberg. Seit fünf Jahren bildet er Orthopädietechniker auf dem Balkan aus. Denn fehlen vor allem Experten, die wissen, wie man eine Prothese baut und anpasst. Schlierf schätzt, dass etwa 300 solche Fachleute gebraucht werden. Bislang gibt es in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens weniger als zwanzig zertifizierte Orthopädietechniker für 24 Millionen Menschen. Das ist so, als müssten vier Fachleute das ganze Ruhrgebiet versorgen.
Auch Emil Bender lässt sich von dem deutschen Verein zum Orthopädietechniker ausbilden, um seine Qualifikation endlich auch auf dem Papier zu haben. Zusammen mit 28 anderen Fachleuten aus Mazedonien, Kroatien, Serbien, Bosnien und Slowenien nimmt er an den Kursen teil. Den größten Teil des Stoffs eignet er sich nach Feierabend am Computer an. Weil die angehenden Gesellen bis zu mehreren hundert Kilometer voneinander entfernt wohnen, ist die Ausbildung größtenteils als E-Learning angelegt.
Vierteljährlich treffen sich alle mit ihrem Meister Christian Schlierf in Werkstätten in Zagreb und Belgrad. „Wir bieten hier die einzige akkreditierte Ausbildung auf dem Balkan“, sagt der gebürtige Nürnberger - ein Idealist, der mit wenig Geld und viel Herzblut das Ausbildungsprogramm aufgebaut hat. Als deutscher Verein konnte er der weit verbreiteten Bürokratie und Korruption in der Region elegant aus dem Weg gehen, denn eine deutsche Werkstatt ist weniger abhängig von der Gunst von Behörden und Auftraggebern als eine bosnische. „Hier ist nichts geregelt, alles hängt von Bekanntschaften ab“, so seine Erfahrung. Deshalb brauche die Region nichts dringender als einheimische Fachleute, so Schlierf.
An der Ausbildung nehmen Männer zwischen 35 und 45 Jahren teil, die sich vor 15 Jahren gegenseitig erschossen hätten, wenn sie sich als Soldaten begegnet wären. Sie bringen Menschen zurück in die Gesellschaft – darunter im schlimmsten Fall auch solche, die auf Minen getreten sind, die sie selbst als Soldaten gelegt haben.
Das gemeinsame Lernen hat die Auszubildenden zusammengeschweißt: So war ein kroatischer Student in Not, als sein Patient nicht zur Prüfung erschien. Sein serbischer Kollege bot ihm an, die Prüfung an „seinem“ Patienten in Belgrad nachzuholen. Inzwischen sind die beiden miteinander befreundet und besuchen sich regelmäßig.
Im Dezember werden die ersten in München ihre Prüfung ablegen – vor einer internationalen Kommission. Für einige kommt noch die Ausbilder-Eignungsprüfung hinzu. Damit können die Absolventen helfen, die nächste Generation von Fachleuten auszubilden.
Für Emil sind es noch zwei Jahre bis dahin. Vielleicht wird er dann noch häufiger den Glücksmoment beim Anpassen einer neuen Prothese erleben: „Gerade Kinder glauben anfangs nicht, dass sie einmal Fußball spielen und zur Schule gehen können. Das ist toll zu sehen, wie sie dann wieder ein fast normales Leben führen.“