Estland

Tallinner Rathauspläne gefährden Weltkulturerbe-Status

Touristen für das Baltikum zu begeistern, war nicht immer eine dankbare Aufgabe. „Wir fahren doch nicht nach Russland“, bekam man von landesunkundigen Messebesuchern noch vor weniger als zehn Jahren zu hören. Andere wieder wähnten die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen auf dem Balkan.

Diese Zeiten sind vorbei: Der Tourismus im Baltikum boomt. Tallinn war 2011 Kulturhauptstadt Europas und konnte Estland somit zu einem Rekordergebnis von 103.600 Urlaubern allein aus Deutschland verhelfen – fast 20.000 mehr als im Vorjahr. In Lettland, das 2013 mit Riga die Kulturhauptstadt Europas stellt, machten knapp 100.000 Deutsche Urlaub, in Litauen sogar 160.000. Entsprechend selbstbewusst präsentieren sich die baltischen Länder auf der diesjährigen ITB, wo sie in einer Halle mit den skandinavischen Staaten zu finden sind. Bei den drei Tourismusagenturen will man den Wachstumskurs weiterführen und setzt dabei auf Kultur- und Naturtourismus, auf Wellness und auf das Interesse an den historischen Spuren der Baltendeutschen.

Ein besonderer Trumpf des Baltikums sind seine fünf von der Unesco ausgezeichneten Weltkulturerbe-Stätten. Neben der Kurischen Nehrung und der archäologischen Fundstätte Kernavė in Litauen sind dies die drei Hauptstädte: das barocke Vilnius, die Jugendstilmetropole Riga sowie Tallinn mit seiner mittelalterlichen Altstadt. Doch ausgerechnet hier, in der alten Hansestadt am Finnischen Meerbusen, droht nun Ungemach.

Die Tallinner Stadtväter wollen sich ein neues Rathaus bauen. Allein wegen seiner voraussichtlichen Kosten von bis zu 132 Millionen Euro ist das Projekt umstritten. Doch auch die Unesco wacht mit Argusaugen über die Pläne für ein modernes Gebäude aus Glas und Stahl direkt vor den Toren der Altstadt. Schon machen in Tallinn Warnungen vor dem Schicksal Dresdens die Runde, das seinen Weltkulturerbe-Titel wegen des Baus der Waldschlößchenbrücke verlor.

Tarmo Mutso, Direktor des estnischen Zentrums für Tourismusentwicklung, verteidigt die Pläne für den Rathausneubau: derzeit würde das gesamte Areal zwischen Altstadt und Ufer umfassend neu entwickelt. So wird dort im Mai in einem alten Hangar für Wasserflugzeuge ein neues Meeresmuseum eröffnet, das verspricht, seine Besucher in Welten über, auf und unter Wasser zu entführen. Die Pläne für das Rathaus seien Teil dieser Uferbebauung. Doch die Stadtverwaltung, ist sich Mutso sicher, führe kein abgehobenes Eigenleben und werde beim Entwurf des Gebäudes mit Bedacht vorgehen.

Von schwierigen Verhandlungen weiß die Generalsekretärin der lettischen Unesco-Kommission Dagnija Baltina zu berichten: nicht nur in Tallinn, sondern auch in Riga und Vilnius. Täglich stehe man dort im Kontakt mit den Verantwortlichen, um Bausünden zu vermeiden, die das Kulturerbe gefährden könnten. „Wir haben von Dresden gelernt“, meint die junge Lettin. „Im Baltikum wird sich diese Geschichte nicht wiederholen.“


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