Allerheiligen versetzt das Land in den Ausnahmezustand
Die kleine Ewa ist skeptisch. Mit weit aufgesperrten Augen blickt sie in das Meer aus Grablichtern – halb träumerisch, halb ängstlich. Erst als Papa Grzegorz der Dreijährigen eine eigene kleine Kerze in die Hand drückt, ist Ewa versöhnt und lacht. So soll es sein zu Allerheiligen in Polen. „Es ist ein fröhliches Familienfest“, erklärt Pastor Stanislaw, der am Vorabend des christlichen Gedenktages über den Friedhof im Süden Warschaus schlendert. „Wir erinnern uns der Märtyrer und der Heiligen, aber auch aller Menschen, denen Gott besonders nah ist.“
Allerheiligen gehört im katholischen Polen zu den wichtigsten Feiertagen im Jahr. Traditionell scheuen die Menschen weder Kosten noch Mühen, um an die Gräber ihrer Angehörigen zu pilgern und die letzten Ruhestätten mit Blumen, Kränzen und Kerzen zu schmücken. Diesmal zeigen sich auch der Wettergott und der Kalender besonders wohlgesonnen: Die Sonne taucht weite Teile Polens in ein goldenes Licht, und dem Fest ist ein freies Wochenende vorgeschaltet. Doch all dies hat auch seine Schattenseiten. Vor allem der extreme Reiseverkehr mit endlosen Staus fordert seinen Tribut. Bei Autounfällen starben allein am Wochenende rund zwei Dutzend Menschen.
Die Polizei hat 15.000 Einsatzkräfte aufgeboten, um die Sicherheit auf den Straßen zu überwachen. Aber auch rund um die Friedhöfe des Landes patrouillieren Streifenbeamte, damit es im Gedränge vor den Eingängen nicht zu Szenen kommt, die an einem Feiertag niemand sehen möchte. „Niemand will sich streiten“, sagt Pastor Stanislaw. „Aber natürlich sind manche Menschen an einem solchen Tag angespannt.“ In vielen Städten verkehren Shuttlebusse, um die An- und Abfahrt zu den Friedhöfen zu erleichtern.
Auf dem zentralen Warschauer Powazkowski-Friedhof sammelt eine Stiftung Geld für den Erhalt der ältesten Grabstätten. Hunderte berühmter Polen sind dort beigesetzt, darunter der Dichter Zbigniew Herbert und die Rock-Legende Czeslaw Niemen. Fast fertiggestellt ist ein Mahnmal für die Opfer der Flugzeugkatastrophe von Smolensk. Vor gut einem halben Jahr waren dabei der polnische Präsident Lech Kaczynski und 95 weitere wichtige Vertreter des Landes ums Leben gekommen. Die Erinnerung an die Tragödie steht an diesem Allerheiligen-Tag im Zentrum des Gedenkens.
Von einer Versöhnung über den Gräbern, wie sie Polen direkt nach dem Unglück zu einen schien, kann allerdings keine Rede sein. Im Gegenteil: Der politische Streit überschattet selbst die Festtage. Der „Mord von Lodz“, bei dem kürzlich ein offenbar geistig verwirrter Attentäter einen Mitarbeiter der nationalkonservativen PiS-Partei von Ex-Regierungschef Jaroslaw Kaczynski getötet hatte, hat die Atmosphäre zusätzlich vergiftet. Bei der Trauerfeier warfen PiS-Politiker dem rechtsliberalen Präsidenten Bronislaw Komorowski und seinem Parteifreund Premier Donald Tusk vor, ein „Klima des Hasses“ zu schüren. Kaczynski hatte die Präsidentenwahl im Juli gegen Komorowski knapp verloren und setzt vor den wichtigen Kommunalwahlen in drei Wochen auf eine Strategie der Konfrontation.