„Wo wirst du heute Nacht schlafen, Feri?”
In den Nächten ist es bitterkalt in Devecser. Deshalb warten Ferenc und Julika Kolompar schon um acht Uhr abends unruhig auf Informationen. Sie wissen immer noch nicht, wo sie die Nacht verbringen werden. Die beiden stehen im Vorraum des realsozialistischen Kulturhauses von Devecser, wo sich Berge von Mineralwasserflaschen stapeln, die mit den Hilfslieferungen gekommen sind.
Aus Ferenc bricht es heraus: „Seit sieben Uhr in der Früh sind wir auf den Beinen, um ein Nachtquartier zu bekommen.” Seine Frau fährt in wütendem Tonfall fort: „Gestern war dasselbe los. Wir konnten erst nach Mitternacht in der Sporthalle eine Schlafmöglichkeit finden.”
„Wir haben gar nichts mehr”
So wie über zweihundert andere Familien in Devecser haben auch Ferenc und Julika kein Dach über dem Kopf. Der ätzende Rotschlamm, der aus dem leck gewordenen Absetzbecken einer Aluminiumfabrik über die Ortschaft geschwappt war, hat auch ihr Haus überschwemmt und unbewohnbar gemacht. Es muss abgerissen werden, wie die meisten anderen Häuser auch, die in Devecser überflutet wurden. Ferenc greift sich an die Jacke: „Alles, was ich anhabe, ist mit den Hilfslieferungen gekommen. Wir haben gar nichts mehr.”
Jetzt tritt auch Zoltan, der Nachbar des Ehepaars Kolompar, hinzu. „Wo wirst du heute Nacht schlafen, Feri?”, fragt er. Auch Zoltan hat noch keinen Schlafplatz. Die Nacht zuvor hat er in seinem Kleinbus verbracht. „Nur war es dort eisig kalt.”
Schutzmasken gegen den Staub
Ferenc ist zwar optimistisch, dass für ihn und die anderen Opfer der Katastrophe neue Häuser gebaut werden. Doch er hat den Verdacht, dass für ihn und seine Frau eine eigene Wohnsiedlung gebaut wird. Ferenc und Julika gehören zur Roma-Minderheit, wie etwa zehn Prozent der 6000 Einwohner von Devescer. „Es wird hier ein Zigeuner-Getto geben, da bin ich mir sicher”, sagt er.
Plötzlich taucht die Tochter der Kolompars auf. Sie hat gute Nachrichten: In der örtlichen Schule gebe es noch Schlafplätze. „Hoffentlich gibt es dort mehr Matrazen. Letzte Nacht mussten wir zu sechzehnt auf zehn Matrazen schlafen”, sagt Julika. Sie und ihr Mann ergreifen sich noch jeweils eine Mineralwasserflasche, ehe sie in der Nacht verschwinden.
Doch die Schlafplätze sind nur ein Problem, mit dem die Opfer der Katastrophe kämpfen. Im Kulturhaus von Devecser hat Bürgermeister Tamas Toldi die Bewohner zu einem Bürgerforum versammelt. Viele tragen Schutzmasken, wegen der hohen Staubkonzentration, die vom getrockneten Rotschlamm verursacht wird. Toldi verkündet, dass die Verteilung der Hilfspakete von jetzt an „streng reglementiert” werde. Es sei mehrfach Missbrauch getrieben worden, sagt er. Zudem betont der Bürgermeister, dass ab sofort keine Kleider mehr verteilt werden können. „Was bisher geschickt wurde, ist schlechteste Qualität.”
Auch Banken nutzen die Notlage aus
Während des Bürgerforums kommt auch der Vertreter des Energieunternehmens Eon zu Wort. Er versichert den Leuten, dass seine Firma bei den Zahlungen der Gas- und Stromrechnungen zumindest bis März nächsten Jahres nachsichtig sein werde. Danach ergreift die Vertreterin einer ungarischen Verbraucherschutzorganisation das Wort. Sie erklärt den Versammelten, dass etliche Banken darauf aus seien, die Notlage vieler Kreditnehmer in Devecser auszunutzen und willkürlich Kreditverträge zu kündigen, um sich die Immobilien der Leidtragenden unter den Nagel zu reißen. Ein Raunen geht durch den Saal. Wer also einen Kredit laufen habe, solle ja nichts unterschreiben, sagt sie.
Schließlich haben auch die Einwohner von Devecser die Gelegenheit, ihre Probleme zu artikulieren. Ein sichtlich angetrunkener Mittfünfziger redet sich in Rage, weil sein Haus, das bei der Schlammflut unversehrt blieb, wegen der Aufräumarbeiten Schäden davongetragen habe. Der Mann wird abrupt unterbrochen: „Deine Problemchen möchten wir haben!”, ruft einer, der alles verloren hat. Darauf ertönt lauter Applaus. Der Bürgermeister versucht die erhitzten Gemüter zu beruhigen: „Zanken wir uns nicht herum, das bringt uns nicht weiter.” Zum Abschluss des Bürgerforums richtet er noch einen Appell an die Versammelten: „Leute, wir müssen jetzt zusammenhalten!”
Der desolate Zustand der Becken war bekannt
Auch der Parlamentsabgeordnete der rechtskonservativen Regierungspartei Fidesz, József Ekes, ist gekommen. Er trägt Gummistiefel, hat seine Ärmel hochgekrempelt. Er hält sich seit der Schlammflut fast ständig im Katastrophengebiet auf. Ekes, zu dessen Wahlkreis auch Devecser gehört, hat nach eigenen Worten bereits vor Jahren auf den desolaten Zustand der Absetzbecken der Firma Magyar Alumínium Zrt. (MAL) hingewiesen. Den Unfall führt er unter anderem darauf zurück, dass unter den sozialistischen Vorgängerregierungen (2002-2010) die Industrie-Aufsichtsbehörde nicht nur systematisch beeinflusst, sondern auch hinters Licht geführt worden sei.
Ekes behauptet, dass nicht eine Million Kubikmeter Rotschlamm aus dem lecken Absetzbecken geflossen seien, wie in den Medien berichtet wurde, sondern mindestens 1,5 Millionen. Die Schlammflut habe sich mit einer Geschwindigkeit von fünf Metern pro Sekunde über Devecser und die Nachbarortschaft Kolontar ergossen, sagt er. Die Wucht der Schlammlawine veranschaulicht Ekes am Beispiel zweier Todesopfer, die Tage nach der Katastrophe geborgen wurden. Diese wurden mehr als drei Kilometer vom Wohnort entfernt gefunden, so Ekes. Die Schlammflut forderte insgesamt 9 Todesopfer.