Tschechien

Prag verliert seine Anziehungskraft

Die Oktobersonne rückt derzeit die „goldene Stadt“ Prag scheinbar ins rechte Licht. Die Altstadt und die barocke Kleinseite geben sich herausgeputzt. Doch viele Bewohner haben dafür keinen Blick. Für sie ist die Stadt, namentlich das Zentrum, in den letzten Jahren zu mehr Schein als Sein verkommen. Sie meiden den Gang ins Zentrum, überlassen es ebenso freiwillig wie unwillig den Touristen. Der Schriftsteller Ivan Klima sagt: „Ich weigere mich, Besucher durch die Innenstadt zu führen, die nur noch an ein lebloses Denkmal erinnert.“ Seine Berufskollegin Alena Wagnerova ergänzt: „Der Magistrat hat bislang nicht verstanden, dass eine Stadt nur Anziehungskraft hat, wenn die Bürger in ihr gut und zufrieden leben.“

Jeder Dritte würde gerne wegziehen

Von Zufriedenheit kann angesichts einer aktuellen Umfrage keine Rede sein: Jeder dritte Prager würde der Stadt gern den Rücken kehren. Dahinter verbirgt sich Kritik an den bislang Mächtigen. Die Partei der Bürgerdemokraten (ODS) stellt seit 1991 ununterbrochen den Oberbürgermeister oder Primator, wie man in Tschechien sagt. Acht Jahre übte Pavel Bem das Amt aus. Er machte aber vor allem Schlagzeilen durch eine Besteigung des Mount Everest und als Ziehkind von Präsident Vaclav Klaus. In Bems Amtszeit jagte ein Skandal den anderen. Prestigeobjekte wie eine dubiose Chipkarte für Museen und den städtischen Personennahverkehr wurden zu einem teuren Flop.

Korruption gedeiht in allen Bereichen

Kultureinrichtungen wurde der Etat gekürzt, viele von ihnen kämpfen ums Überleben, nicht besser geht es Universitäten und Hochschulen. Betrügerische Taxiunternehmen und Wechselstubenbesitzer treiben ungerührt ihre gesetzeswidrigen Praktiken. Nicht zu reden davon, wie die Korruption in allen Lebensbereichen gedeiht, namentlich bei der seltsamen Vergabe von Bauprojekten, meist an ordentlichen Ausschreibungen vorbei. Die weltberühmte Karlsbrücke wird derzeit unter der Aufsicht der Stadt so stillos saniert, dass alten Pragern die Tränen in die Augen schießen.

Mit der Bewerbung um die Ausrichtung der Olympischen Sommerspiele 2016 gesellte sich zu den Versäumnissen in der Stadtpolitik auch noch Größenwahn. Weder die Prager noch die Tschechen außerhalb der Stadt wollten die Bewerbung, weil ihnen schwante, dass sie den Spaß zu bezahlen hätten. Dafür sperrten sich die Ratsleute vehement gegen den futuristischen Bau einer dringend erforderlichen neuen Nationalbibliothek durch den exil-tschechischen Stararchitekten Jan Kaplicky, obwohl der die Jury überzeugt hatte. Als sich Präsident Klaus aus geschmäcklerischen Gründen gegen den Bau wandte, brachte Oberbürgermeister Bem die Ratsleute auf dessen Linie.

Nur im Zoo sind Prager noch unter sich

Viele Prager fühlen sich in der eigenen Stadt nicht mehr zu Hause. Dass auch die Touristen immer weniger werden, erkennt man unter anderem daran, dass nicht die Burg oder die Karlsbrücke im vergangenen Jahr die Hauptattraktionen der Stadt waren, sondern der Zoo, in dem die einheimischen Besucher fast ausnahmslos unter sich sind. Dafür sind die Innenstadtkneipen nun völlig in der Hand ausländischer Gäste: Die Bier- und Essenspreise sind für normal sterbliche Tschechen nicht mehr erschwinglich.

Ob sich das alles unter einem neuen Oberbürgermeister ändert, muss abgewartet werden. Der in den Umfragen führende Zdenek Tuma von der Partei TOP 09 von Außenminister Schwarzenberg versteht zumindest mit Geld umzugehen: Tuma arbeitete lange Jahre erfolgreich als Chef der Staatsbank.

Doch es geht nicht nur ums Geld und darum, die Korruption auszumerzen, wie alle Kandidaten betonen. Folgt man dem Architektur-Historiker Pavel Kalina, dann braucht Prag vor allem eine neue Vision. „Andere Städte wie Wien“, sagt er, „investieren in Innovationen und Technologien. Prag droht, wenn es so weiter regiert wird wie bisher, der Absturz zu einem zweitklassigen Disneyland im Herzen Europas.“


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