Lettland

Die Russen kommen

Mit Abscheu blickt Janis auf eine endlose Bretterwand in Riga mit Wahlplakaten, auf denen sich die lettischen Parteien vor den Parlamentswahlen am 2. Oktober präsentieren. Inhalte werden hier vermieden, im Vordergrund stehen die Gesichter altbekannter Politiker. „Denen glaube ich kein Wort mehr“, schimpft der stämmige Mitvierziger. Janis hat beschlossen, erstmals das bislang Unvorstellbare zu tun: „Ich werde am 2. Oktober für das ‚Harmoniezentrum’ stimmen. Klar, das ist die Russenpartei, aber noch schlimmer kann es ja wohl nicht kommen“, meint er wütend.

Umfragen zufolge sind Wähler wie Janis längst keine Seltenheit mehr. Rund 40 Prozent der Einwohner Lettlands sind ethnische Russen, in der Hauptstadt Riga stellen sie sogar die Mehrheit. Sie kamen während der sowjetischen Besatzung als Folge der Nationalitätenpolitik Moskaus. Nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit Lettlands fristeten viele von ihnen als Staatenlose politisch ein eher marginales Dasein. Aber inzwischen haben immer mehr von ihnen die lettische Staatsbürgerschaft erhalten – und gewinnen damit an Einfluss. Zwar gilt das „Harmoniezentrum“ für viele Letten als fünfte Kolonne Moskaus und als Gefahr für die Unabhängigkeit des Landes, auch wenn dies aus Gründen der politischen Korrektheit selten offen ausgesprochen wird. Doch immer mehr lettischstämmige Wähler verlieren die Furcht vor dieser Gruppierung. In der Hauptstadt Riga, in der mehr als ein Drittel der Bevölkerung Lettlands lebt, regiert inzwischen mit Nils Usakovs sogar ein russischstämmiger Bürgermeister. „Das zeigt uns doch, dass sich dadurch nichts Dramatisches verändert“, meint Ligita, die Begleiterin des überdrüssigen Wählers Janis.

In der Tat spielt das früher so dominante Nationalitäten- und Sprachproblem im lettischen Wahlkampf diesmal eine eher untergeordnete Rolle. Kaum ein EU-Mitgliedstaat wurde so heftig von der Finanz- und Wirtschaftskrise getroffen wie Lettland. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, und nur radikale Sparprogramme und Kredite des IWF konnten das Land vor dem Staatsbankrott bewahren. Die etablierten Parteien haben daher in der Wählergunst deutlich Federn lassen müssen. Um überhaupt den Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde zu schaffen, haben sich viele zu Bündnissen zusammengeschlossen. Seit Wochen sehen Umfragen das „Harmoniezentrum“ auf Platz eins, gefolgt von dem Parteienbündnis „Einheit“ des amtierenden Premiers Valdis Dombrovskis und der „Union der Grünen und Landwirte“. Alle anderen Parteien und Bündnisse müssen um ihren Einzug ins Parlament bangen.

Offen ist freilich, ob das erst 2005 gegründete „Harmoniezentrum“ seinen Sieg am Ende tatsächlich wird umsetzen können. Die Situation in Lettland erinnert an die Lage in Ostdeutschland nach der Wende, als niemand mit der PDS zusammenarbeiten wollte. Auch in Lettland raufen sich die übrigen Parteien seit Jahren zu mehr oder weniger großen und zerstrittenen Koalitionen zusammen, was wiederum die Politikverdrossenheit immer weiter verstärkt. Das „Harmoniezentrum“ gibt sich indes geläutert. In ihrem Programm bezeichnet sich die Partei als „Mitte-Links-Bündnis“, Forderungen nach mehr Privilegien für die russische Minderheit sind – zumindest auf den ersten Blick – nicht auszumachen. Immer mehr Letten verlieren daher ihre Berührungsängste oder erhoffen sich sogar eine Verbesserung der angespannten Beziehungen zu Russland. Dies wiederum könnte zu einer Verbesserung der wirtschaftlichen Lage führen: Russland benötigt für seine Exporte eisfreie Häfen wie Riga. Lettland wiederum würde von Warenströmen und störungsfreien Energielieferungen aus dem Osten profitieren. Unter Usakovs kommen immer mehr lettische Wirtschaftsdelegationen aus Russland. Eine ähnliche Entwicklung erhoffen sich die Wähler für ganz Lettland.

Aber wird es am Ende wirklich einen Machtwechsel geben? Wähler Janis ist skeptisch. „Am wahrscheinlichsten ist doch, dass dieselben Politiker weitermachen wie bisher.“


Weitere Artikel