Lettland

Eine russisch-lettische Liebe

Der zweijährige Arturs klatscht in die Hände und klettert auf Papas Schoß, seine vierjährige Schwester Maria dreht sich im Kreis und schlägt einen Purzelbaum, wenn Kristaps Valdnieks mit seinen Kindern Dainas, traditionelle lettische Volkslieder, singt. Aber kaum dreht sich der Schlüssel in der Tür, stürmen die zwei ihrer Mutter Natalja in die Arme, die Sohn und Tochter durch die Luft wirbelt und mit russischen Kosenamen begrüßt.


„Unsere beiden Kinder werden ein Bindeglied zwischen Letten und Russen sein“, sagen die Eltern von Arturs und Maria / Martin Fejer EST&OST

Kristaps Valdnieks ist Lette, seine Frau Natalja Barkanova russischer Herkunft. Die beiden Journalisten haben sich direkt nach ihrem Studium vor 14 Jahren im Fernsehstudio der lettischen Hauptstadt Riga kennen und lieben gelernt. Seine Freunde hätten ihn sogar bewundert, erzählt Kristaps nicht ohne Stolz, weil jeder die dunkelhaarige Moderatorin Natalja aus dem Fernsehen kenne. Seine Mutter habe allerdings geschluckt, als plötzlich von Hochzeit die Rede gewesen sei. „'Weshalb muss es eine Russin sein, gibt es nicht genug lettische Mädchen?', hat sie hinter vorgehaltener Hand meinen Bruder gefragt”, erzählt Kristaps, „mir hat sie ihre Ablehnung aber nicht gezeigt.“ Nataljas Mutter lehnte den lettischen Schwiegersohn hingegen lautstark und öffentlich ab. Bis sie mit einem gebrochenen Bein ins Krankenhaus kam, erinnert sich Natalja Barkanova. „Kristaps kaufte für sie ein, brachte sie im Auto nach Haus, kümmerte sich um sie. Seitdem gehört er zur Familie.“


Kristaps Valdnieks ist Lette, seine Frau Natalja Barkanova russischer Herkunft / Martin Fejer, EST&OST

Jeder dritte Einwohner Lettlands ist russischer Herkunft. Letten und Russen lebten nebeneinander in ihren eigenen Gesellschaften, die nur wenig miteinander verbinde, kritisiert Natalja. Sie läsen ihre eigenen Zeitungen, folgten den eigenen Radio-und Fernsehsendungen, gingen ins russische oder lettische Theater.

Die Wurzeln dieser Entwicklung liegen lange zurück. Zum ersten Mal hatte die kommunistische Sowjetunion Lettland im Juni 1940 besetzt: Täglich wurden Menschen als Staatsfeinde verhaftet oder als Partisanen erschossen. Mehr als 15.000 Erwachsene und Kinder deportierte die Rote Armee in Güterwaggons nach Sibirien. Als 1941 die Deutschen einmarschierten, empfing man sie quasi als Befreier. Allein 150.000 Männer kämpften in der lettischen Legion, die 1944 der deutschen Waffen-SS angeschlossen wurde. Die meisten wurden einberufen, viele zogen aber freiwillig in den Krieg und wollten nach einem Jahr des blutigen Stalin-Terrors ihren Hass entladen. Als Lettland nach Kriegsende schließlich Teil der Sowjetunion wurde, erhielten die Kämpfer der Roten Armee Auszeichnungen und die Familien der SS-Legionäre wurden geächtet.

„Keiner meiner Verwandten wurde nach Sibirien verschickt“, sagt Kristaps. „Niemand diente als Legionär in der Deutschen Armee und wurde deshalb als Faschist beschimpft. Es gab keinen Grund in meiner Familie, schlecht über Russen zu denken.“

Doch die nationalkonservative lettische Vaterlands-Partei streute nach der Unabhängigkeit Lettlands 1991 kräftig Salz in diese alte Wunden: Die Politiker werteten die lettischen Legionäre zu neuen Helden auf, konnten Wählerstimmen gewinnen und die Regierung bilden. Seitdem habe nicht nur die Sprachpolitik sondern auch der Umgang mit dem Zweiten Weltkrieg die Gräben zwischen Letten und Russen vertieft, klagen Natalja Barkanova und Kristaps Valdnieks.

Nataljas Vater war direkt nach dem Krieg mit seinem älteren Bruder aus Russland eingereist und später als Bauarbeiter am Aufbau neuer Industriebetriebe und dem Rigaer Hauptbahnhof beteiligt. Nataljas Mutter kam in den 60er Jahren aus Weißrussland und erhielt in der Waggonfabrik einen Job als Ingenieurin. Es gehörte zur Nationalitätenpolitik der sowjetischen Machthaber, dass hunderttausende Russen, Weißrussen oder Ukrainer nach dem Zweiten Weltkrieg in Lettland einwanderten. Sie sollten die neue Sowjetrepublik politisch unterwandern und den Kommunismus etablieren.
Natalja wuchs in einer Plattenbausiedlung auf, in der vor allem Russen lebten. Sie besuchte eine russische Schule und sprach kaum ein Wort Lettisch, als Lettland vor 19 Jahren seine Unabhängigkeit von der ehemaligen Sowjetunion erklärte. Im lettischen Alltag gab im Sozialismus die russische Sprache den Ton an.

Aber es gab auch Ausnahmen. Nataljas Mann Kristaps hat Kindheit und Jugend in der Kleinstadt Valmiera verbracht, umgeben von lettischen Schulkameraden und Freunden. Die einzige russische Familie in seinem Wohnblock sei eben in der Minderheit gewesen, sagt er, sie habe sich angepasst und Lettisch gesprochen. Vor allem in den ländlichen Gebieten konnte sich die Vormachtstellung des Lettischen behaupten, in vielen Dörfern, weitab von den großen Industiezentren, wurde nicht ein Wort Russisch gesprochen. Die politische Elite in der Hauptstadt Riga interessierte sich dafür nicht.

In der neuen Republik 1991 wurde Lettisch sofort zur Amtssprache erklärt. Wer Staatsbürger werden wollte, musste eine Prüfung auf Lettisch bestehen. „Natürlich habe ich sofort verstanden, dass ich Lettisch lernen muss, wenn ich in Lettland bleiben will,“ sagt Natalja, die heute lettische Staatsbürgerin ist und beide Sprachen fließend spricht.


Kristaps Valdnieks und Natalja Barkanova / Martin Fejer, EST&OST

Es sei ein Wunder, dass die Sprachpolitik im derzeitigen Wahlkampf kaum eine Rolle spielt, finden Kristaps und Natalja. Aber seit Lettland von der weltweiten Wirtschaftskrise geschüttelt wird, sind die lettischen Wähler vor allem an einer sachorientieren Politik interessiert, die neue Arbeitsplätze schaffen kann. Da viele vor allem westliche Banken für das lettischen Staatsbankrott verantwortlich machen, wird heute von den Wählern sogar eine intensivere Zusammenarbeit mit Russland unterstützt. In den jüngsten Meinungsumfragen zur bevorstehenden Parlamentswahl am 2. Oktober steht die pro-russische Partei “Harmoniezentrum” weit vorne.

Die Entwicklung weg von nationalistischer Hetze freut Kristaps und Natalja. Denn schon vor einigen Jahren wollten sie etwas schaffen, das Letten und Russen verbindet. Und hatten eine ungewöhnliche Idee: den ersten lettisch-russischen Kriminalreport im lettischen Staatsfernsehen. „Du hast Rechte“ ging 2003 zum ersten Mal auf Sendung. Sowohl in lettischer, als auch in russischer Sprache. Natalja und Kristaps setzten in ihrer  Sendung am gemeinsamen Alltag von Letten und Russen in Lettland an und behandeln ganz pragmatische Fragen: Wie kann ich mich vor lauten Nachbarn schützen? Wer hilft mir, wenn ich beim Kauf einer Wohnung betrogen worden bin? Oder: Was ist zu tun, wenn der Gerichtsvollzieher vor der Tür steht?

Weil aber das lettische Fernsehen Nataljas Ratgeber nicht bezahlen konnte, war sie auf lukrative Werbung und Sponsoren angewiesen. Geld gaben zu Beginn eine lettische Bank und das Justizministerium, das die Arbeit der Gerichtsvollzieher erklären wollte. Die größte Summe kam ausgerechnet vom Justizministerium aus Norwegen, weil sich der Nachbarstaat beim Aufbau eines stabilen Rechtssystem in Lettland engagierte. „Egal ob Russe oder Lette, vor dem Richter sind wir alle gleich“, sagt Natalja. „Trotzdem musste die russische Version unserer Ratgebersendung jetzt dem Sparzwang zum Opfer fallen.“ Ein Politikum sieht sie darin aber nicht.

Stattdessen hat Natalja einen zusätzlichen Job in einem lettischen Nachrichtenkanal angenommen. Obwohl sie dort jede ihrer Reportagen mit fehlerfreiem Lettisch unterlegt, erhält sie wiederholt böse Leserbriefe, die sich an ihrem russischen Akzent stören. Ihn beruhige, sagt Kristaps, dass es mittlerweile viele gemischte Familien in Lettland gebe. Das helfe sicher, einander zu respektieren. Ob im Supermarkt oder im Zoo, überall träfen sie heute junge lettisch-russische Familien.


„Wir wünschen uns, dass der Nationalitätenkonflikt Geschichte ist, wenn Arturs und Maria erwachsen sind“, sagen die Eltern Kristaps und Natalja / Martin Fejer, EST&OST

Kristaps und Natalja möchten, dass ihre beiden Kinder zuerst einen russischen Kindergarten besuchen, später aber auf die lettische Schule gehen. Ein bisschen sorge sie zwar, dass die beiden dort weder Puschkin noch Tolstoi lesen werden, sagt Natalja Barkanova. Aber dafür würden sie weitere lettische Dainas kennen lernen. „Unsere beiden Kinder werden ein Bindeglied zwischen Letten und Russen sein“, sagen die Eltern. „Aber wir wünschen uns, dass der Nationalitätenkonflikt Geschichte ist, wenn Arturs und Maria erwachsen sind.“


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