Polen

Breslaus „Viertel des gegenseitigen Respekts“

Der erste Stein traf die Tür der Breslauer Synagoge. Die jungen Schüler saßen dort über der Thora und lernten. „Zuerst schlug etwas gegen die Tür, danach flogen mehrere Steine gegen die Scheiben“ erinnert sich Jerzy Kichler. An dem Samstagabend 1995 hörten er und seine Thora-Schüler nach dem Steinwurf Stimmen und Schritte auf der Straße. Einige der Jungen rannten nach draußen und schnappten sich einen der Angreifer. „Jung war er, mit kahlgeschorenem Kopf. Ein typischer Skinhead“, erzählt Kichler. „Als wir ihn in den Raum holten, fing er an zu schreien: ‚Die Juden schlagen mich, sie bringen mich um‘.“

Der Polizist, der zu Hilfe kam, durchsuchte den Skinhead und fand ein riesiges Messer bei ihm. Dieser Fund brachte den Wachmann so auf, dass er zuschlug. „Auf einmal beschützten unsere Jungen, die Juden, einen Skinhead, der sie angegriffen hatte, vor einem Polizisten“, lacht Kichler heute. „Eine schwer vorstellbare Situation“.

Doch lustig war es damals nicht. Die nächsten Steine folgten. Einer durchschlug das Fenster der orthodoxen Kirche nebenan, ein weiterer flog mitten in das nahe gelegene katholische Gotteshaus. Da dachte sich Jerzy Kichler: Man muss etwas unternehmen. Er ging zum katholischen Pfarrer in der benachbarten Gemeinde. Danach besuchte er die Geistlichen aller in dem Viertel vertretenen Konfessionen. Sie erzählten in ihren Gemeinden von den Taten und sprachen von Toleranz. Die Strategie von Kichler zeigte Wirkung: 1995 wurde das „Viertel des gegenseitigen Respekts“ geboren.


Jerzy Kichler von der jüdischen Gemeinde ist der Gründer des „Viertels des gegenseitigen Respekts“ / Agnieszka Hreczuk, n-ost

Durch das Fenster der renovierten Storch-Synagoge ist der Turm der katholische Kirche St. Anton zu sehen. Nur 200 Meter von St. Anton entfernt liegt die orthodoxe Kirche, 200 Meter von der Synagoge wiederum steht ein protestantisches Gotteshaus. Ein großer Teil der Weltregionen versammelt sich hier in einem kleinen Teil der Breslauer Altstadt. „Schau mal: Drei Kirchen und eine Synagoge. Nachbarn sind wir seit Jahrhunderten. Es wäre schön, wenn wir das richtig nutzen würden“. Das habe Jerzy damals zu ihm gesagt, erinnert sich Janusz Witt.

Witt stammt aus Wielun, der ersten Stadt, die 1939 von Deutschen bombardiert wurde. Seine Erinnerungen aus der Kindheit sind Leichen, Trümmer und deutsche Soldaten. „Nach dem Krieg hat es viel Hass gegeben“, sagt er. „Zwischen Christen und Juden, aber auch unter den christlichen Kirchen lief es nicht so, wie man sich es wünschen würde“, urteilt er. Die Protestanten zum Beispiel, wurden immer misstrauisch als Deutsche betrachtet. Es habe zwar Kontakte zwischen Katholiken und Protestanten oder Juden und Christen gegeben, aber die seien meist auf einen bestimmten Bereich begrenzt gewesen, erzählt Witt. Viele trafen sich zum Beispiel in der oppositionellen Bewegung oder in der Kreisauer Stiftung.


Der Protestant Janusz Witt gehört mit Kichler zu den Gründungsvätern des Viertels / Agnieszka Hreczuk, n-ost

Der Jude Kichler und der Protestant Witt sind seit Jahren Freunde. „Die Idee von Jerzy, ein Viertel der Versöhnung zu gründen, fand ich gut. Aber was die die Umsetzung  anging, war ich skeptisch“, sagt Witt heute.

Das, was heute unter dem Namen „Viertel des gegenseitigen Respekts“ bekannt ist, waren am Anfang einzelne Aktionen der Gemeinden. „Es ist von selbst geboren, das Viertel. Ganz spontan“ erzählt Jerzy Kichler. Kichler und Witt dachten, die Gewalt entstünde aus einer Angst vor dem Unbekanntem. Also luden sich die einzelnen Gemeinden, die zwar in enger Nachbarschaft lebten, aber kaum etwas voneinander wussten, von nun an zu Veranstaltungen und Feiern gegenseitig ein. „Ich war über 50 Jahre alt, als ich zum ersten Mal eine Hostie sah“, erinnert sich Kichler. Gezwungen wurde keiner. Freiwilligkeit war das Hauptprinzip, das über den Erfolg entscheiden sollte.

„Es gab bei uns in der Gemeinde viele ältere Mitglieder, die aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten stammen. Auf einem Treffen haben sie angefangen, ukrainische Lieder, die so genannten 'Dumki', zu singen. Da stellte sich heraus, dass umgekehrt viele Ostpolen und  Ukrainer, die zur polnischen orthodoxen Kirche gehören, aus ihrer Kindheit noch jiddische Lieder kannten. Sie sangen dann alle zusammen“, erzählt Kichler. „Und dann trafen sie sich weiter, ohne unsere Vermittlung, außerhalb ihrer Gemeinden.“ Irgendwie hätte alles immer weitere Kreise gezogen, sagt Kichler.

Senioren, Erwachsene, Kinder und Studenten, alle waren dabei. Plötzlich sei ihnen bewusst geworden, dass sie alle das Alte Testament in ihren Gemeinden lesen. Workshops, in denen man jüdische Tänze oder Gospel, gregorianische Choral oder jüdische Gesänge lernen konnte, wurden immer beliebter. „Zu Beginn kamen 50 Leute, dann schon 500“, erzählt Kichler. „Irgendwann haben wir ein Problem gehabt, alle unterzubringen. Wir mussten manchmal sogar den Zugang beschränken“, lacht er.

„Unsere Zielgruppe ist die Jugend“, sagt er. In Ferienkursen probieren Kinder die evangelische Priesterrobe an, backen jüdische Matzen oder kneten die Tafeln Mose aus Lehm. Und sie kommen nach den Sommerferien wieder. Mehrere Tausend waren es in den vergangenen 15 Jahren. Inzwischen studieren sie oder arbeiten. Viele sind geblieben, als ehrenamtliche Mitarbeiter.

Der Erfolg der einzelnen Aktionen machte das Viertel bekannt. Das „Viertel des gegenseitigen Respekts“ wurde zum Vorzeigeobjekt für die offiziellen Gäste der Stadt. Der Patriarch von Konstantinopel und der Dalai Lama kamen zu Besuch. Denn „so was ähnliches gibt es sonst nicht“ behaupten einstimmig die Einwohner. „Ökumene, Zusammenarbeit – das gibt es schon. Doch unser Viertel ist mehr, es ist schon ein transreligiöser Dialog. Wo die Religionen nicht nur untereinander reden, sondern gemeinsam große finanzielle Projekte tragen“, sagt Kichler.

Wenn Kichler und Witt die Väter des „Viertel des gegenseitigen Respekts“ sind, dann ist Stanislaw Rybarczyk der Schöpfer der zweiten Phase. Er öffnete dem Viertel einen neuen Weg. „2005 haben wir mitbekommen, dass sich das Informelle des Ganzen erschöpft hat“, erzählt Rybarczyk. Neue Ideen und Programme konnten nicht umgesetzt werden, weil sowohl das Geld als auch der organisatorische Rahmen fehlten. Also schlug Rybarczyk vor, eine Stiftung zu gründen. Dank ihr wurden viele weitere Projekte möglich und die Initiative bekannter.

Rybarczyk ist selbst ein Symbol des Viertels. Der gebürtige Breslauer, teilweise mit deutschen Wurzeln, half bei der Wiedergeburt der Breslauer jüdischen Gemeinde nach der Wende. Der Berufsmusiker gründete einen Synagoge-Chor - den einzigen in ganz Polen. Dabei ist Rybarczyk ein Katholik. „Tja, da sind die meisten überrascht“ lacht er.

Noch vor dem Krieg trafen in dem Viertel Juden und Christen zusammen. „Im Dezember machten sie ein großen Fest zusammen, Weihnachten und Chanukka“, erzählt Witt. „Weihnukka nannten sie es“. Auf Wlodkowica, wo die Synagoge steht, nur ein Stück weiter, wo einst das St. Elisabeth-Kloster stand, versammelten sich in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts Katholiken und Protestanten auf ökumenischen Treffen. Una Sancta hießen sie. Heute gibt es eine Gedenktafel dort, gestiftet vom Viertel.

„Es liegt hier in die Luft, über den Straßen und Gebäuden: Ein Gefühl der Toleranz und des gegenseitigen Respekts“, Stanislaw Rybarczyk hält viel von der besonderen Bestimmung  Breslaus. Rybarczyk ist ein Mann, der nicht an Zufälle glaubt. Da müsse schon der Allmächtige seine Hand im Spiel haben, lächelt er. 

2010 fliegen auf der Wlodkowica-Straße keine Steine mehr, sagt Jerzy Kichler. „Dafür begrüßen mich die Nachbarn mit 'Schalom', wenn ich vorbei laufe.“ Den Steine werfenden Jungen von damals sehe er heute noch manchmal. Dieser sei kein Skinhead mehr. „Ist das nicht ein Happy End?“, fragt Kichler.


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