Polen

„Demokratie heißt Krieg" / Interview mit Lech Walesa

ostpol: Herr Walesa, der 30. Jahrestag der Gewerkschaft Solidarnosc wird in Danzig groß gefeiert. Auch von Ihnen?

Lech Walesa: Nein, ich habe keine Lust zu feiern. Sonst müsste ich sagen, dass ich mit allem einverstanden bin. Ich freue mich über unseren Sieg von damals. Aber ich freue mich nicht darüber, was heute daraus geworden ist.

Was ist denn von der Gewerkschaft, wie Sie sie 1980 mitbegründet haben, geblieben?


Walesa: Übrig geblieben ist eine Gewerkschaft, die um die 500.000 Mitglieder hat. Meine Solidarnosc hatte zehn Millionen und noch mehr. Es ist also nicht viel übrig. Die schreiben sich immer noch den Sieg auf die Fahnen. Die behaupten, sie seien Solidarnosc. Geblieben ist der Name, alles andere ist weg.

Wie sieht es denn mit der Solidarität unter ihren Landsleuten aus? Nach dem Absturz der Präsidentenmaschine im April standen alle zusammen. Ein Kreuz vor dem Präsidentenpalast sollte an die Opfer erinnern. Jetzt spaltet das Warschauer Kreuz das Land.
Walesa: Wissen Sie, Demokratie heißt Krieg. Jeder gegen jeden, aber immer im eisernen Rahmen der Gesetze. Wir müssen erst noch begreifen, dass man nicht auf das Grundstück des Präsidenten spazieren darf, dass man da ohne Erlaubnis nichts aufstellen darf, nicht mal ein Kreuz. Den neuen Demokratien, also auch Polen, fehlen noch gute Gesetze. Aber solche Vorfälle helfen uns auch, etwas zu verbessern.

In ein paar Wochen feiern die Deutschen 20 Jahre Wiedervereinigung. Haben Sie das Gefühl, dass der polnische Anteil an diesem Ereignis angemessen gewürdigt wird?

Walesa: Sicher würden wir uns über ein bisschen mehr Wertschätzung freuen. Die Deutschen haben das zwar selbst hin bekommen - aber die Polen haben dem sowjetischen Bären die Zähne ausgeschlagen. Als der nicht mehr beißen konnte, konnten sich die Deutschen vereinigen. Aber lassen wir die Details. Freuen wir uns doch einfach. Wir sollten vorangehen und ein gemeinsames Europa bauen.

Werden Sie denn am 3. Oktober in Deutschland sein?

Walesa: Bis jetzt hat mich niemand eingeladen. Das letzte Mal, als ich da war, habe ich angemerkt, dass sich die Politiker keine Orden anheften sollten. Das Volk hat die Mauer eingerissen und Deutschland vereinigt, die Politiker hatten Angst. Vielleicht werde ich deshalb nicht eingeladen.

Die Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, die ja in der Nähe von Danzig geboren wurde, hat kürzlich vorgeschlagen, den 5. August zum Vertriebenen-Gedenktag zu machen.

Walesa: Wir haben genug Probleme in unseren Beziehungen. Die einen sind der Ansicht, man müsste diese Wunde erst noch richtig säubern und dann etwas Gemeinsames aufbauen. Andere sagen, ach, lassen wir das, gestalten wir die Zukunft, wozu das weiter anheizen. Ich weiß nicht, welche Vorstellung besser ist. Aber ich würde lieber mit den Deutschen die europäische Einheit bauen. Gedenken wir dieser Sachen, aber schaffen wir keine Denkmäler mehr.

Vor den Präsidentschaftswahlen hat Jaroslaw Kaczynski angekündigt, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Er gab sich im Wahlkampf in alle Richtung versöhnlich. Doch nach der verlorenen Wahl hat sich sein Ton wieder verschärft. Versöhnlicher tritt Polens neuer Präsident Bronislaw Komorowski auf. Was kann man von ihm erwarten?

Walesa: Er ist zu kompromissbereit, zu zaghaft, zu wohl erzogen – und deshalb wird es sehr ruhig werden. Ich werde ihn dazu ermutigen, in Polen Ordnung zu machen, weil das Land ja viel begonnen hat. Er sollte sich damit in aller Ruhe beschäftigen. Wenn er das tut, wird er ein guter Präsident sein.

Nächstes Jahr gibt es in Polen Parlamentswahlen. Könnten Sie sich vorstellen, für ein Mandat zu kandidieren?


Walesa: Mein Charakter ist eher der eines Entscheiders, eines Präsidenten, eines Führers. Im Parlament halte ich es eine Stunde aus, vielleicht zwei. Ich kann diese Geschwätzigkeit nicht leiden. Da brauche ich ein Kreuzworträtsel oder einen Computer, weil ich nicht gerne zuhöre. Aber Demokratie baut ja gerade darauf auf. Ich bin Patriot. Wenn es in Polen schlecht läuft, werde ich kämpfen, aber so lange es einigermaßen läuft, bin ich einfach Rentner.


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