Leben mit der Ruine
Eine Hauptstraße, wenige Seitenstraßen, und ganz am Ende des Dorfes Tatárszentgyörgy: die Ruine. Dort, wo ein kleines Wäldchen und Wiesen beginnen, abseits der 2.000-Seelen-Gemeinde, wo es nur noch einen Feldweg gibt, steht das Haus. „Robi – wir lieben Dich“ ist an die pastellgelbe Fassade des Lehmziegel-Hauses gemalt, durch die verkohlten Dachbalken scheint die heiße Pusztasonne auf eine kleine Puppe: Robikas Puppe liegt zwischen dem Schutt. Der Fünfjährige starb am 23. Februar 2009 durch ein Attentat. Am Nebenhaus wird gebaut, ein Betonmischer dreht sich, es wird gehämmert, das Scharren der Maurerkellen an der Wand ist zu hören.
Verkohlte Dachbalken zeugen von
der Mordnacht: Das Haus wurde in
Brand gesetzt, die Fliehenden erschossen.
Foto: Stephan Ozsváth, n-ost
Großvater Csaba Csorba legt für einen Moment die Schaufel beiseite, erinnert sich an den 23. Februar 2009. „Wir wachten auf, hörten drei Schüsse, meine Tochter sah das Haus brennen. Der kleine Robi war schon tot, sein Kopf war zerschossen“. Die Familie stürmt aus dem Haus um zu helfen. Neben dem fünfjährigen Kind liegt dessen Vater, der 27-jährige Robert Csorba. „Mein Sohn lebte noch, konnte nur noch sagen ‚nieder, nieder, nieder’ – damit wollte er uns wohl sagen, dass er niedergeschossen wurde“, sagt er und wischt sich über die Augen. Erst nach einer dreiviertel Stunde sei der Krankenwagen gekommen. Auch die Polizei habe schwere Fehler gemacht, sagt Csaba Csorba, der mit Ende 40 kaum noch Zähne hat und aussieht wie ein alter Mann. Er ist unrasiert, vorne auf dem Schulterblatt trägt er eine verwaschene Rosen-Tätowierung.
Er empört sich. „Dort, wo mein Sohn lag, ist ein Angreifer hingefallen, dort waren Spuren der Hände, des Gewehres im Schnee. Die Polizei ging dort pinkeln“. Nach Protesten der Familie habe der Vorgesetzte der Polizei nur geantwortet: „Irgendwo müssen sie sich doch erleichtern“. Die Spuren waren danach verwischt. Sein Sohn Krisztián (22) kommt später ins Haus, er hat eine Patronenhülse gefunden. Da ist die Polizei schon längst weg. „Das war der Beweis, dass sie unsere Familie abgeschlachtet haben“, sagt der junge Mann, der selbst schon Vater von zwei Kindern ist, und schippt neuen Sand in den Betonmischer. Nur dank Spenden war es möglich, die Toten von Tatárszentgyörgy überhaupt würdevoll unter die Erde zu bringen, erzählt sein Vater.
Neun Attentate auf Roma in zwei Jahren
Tatárszentgyörgy – eine Station einer ganzen Mordserie. Neun Attentate auf Roma in zwei Jahren, die sechs Todesopfer forderten. Allein in Tatárszentgyörgy waren es zwei, nämlich Robert und Robika Csorba. Das Muster war immer das gleiche: Die Attentäter guckten sich entlegene Häuser aus und schlugen dann heimtückisch zu. Immer nachts, immer, wenn die Opfer schliefen. Nach dem letzten Attentat im ostungarischen Kisléta gab es vor einem Jahr dann endlich einen Fahndungserfolg. Die Polizei hob ein mutmaßliches Mordkommando aus: Vier Verdächtige wurden ausgemacht, einer ist ein ehemaliger Polizist mit deutlich rechtsextremem Weltbild. Die Ermittlungen seien abgeschlossen, teilte die Polizei jetzt mit. Einer sei nur Helfer gewesen, drei gelten als Täter. Das hätten DNS-Spuren, Berichte der Waffenexperten und belastende Aussagen einwandfrei erwiesen, so die Polizei.
„Ich kann nicht verstehen, wie jemand auf Menschen schießen kann, dann auch noch auf ein Kind“, sagt der 59-jährige Kurt Hauk, der sich Urlaub genommen hat, um der Familie Csorba ehrenamtlich beim Bau eines neuen Hauses zu helfen. Das Dach ist bereits gedeckt, die Fenster sind eingesetzt. Computerfachmann Hauk stammt aus dem pfälzischen Schifferstadt, zu Hause sorgt er dafür, dass die Computer in der Verwaltung laufen. „Ich finde das schön, auch mal körperlich zu arbeiten“, sagt er und klatscht mit der Maurerkelle neuen Putz an die Wand. Drei weitere Deutsche, ein Pole und auch einige Ungarn packen mit an, außerdem ein Dutzend Roma, die sich in den Pausen um ein tragbares Keyboard scharen und flotte Musik spielen.
Die ehrenamtlichen Helfer haben der Internationale Bauorden nach Tatárszentgyörgy gebracht, der Deutsche Fußball-Bund und Roma-Organisationen aus Deutschland und Ungarn. „Das war eine spontane Idee“, erzählt Herbert Heuss, Projektleiter vom Zentralrat deutscher Sinti und Roma. „DFB-Chef Theo Zwanziger hörte von den Morden in Ungarn, rief an und fragte: Können wir da nicht was machen?“ Heuss organisierte das Bauprojekt, suchte Partner. „Wir wollten sowohl der Familie zeigen, dass sie nicht allein ist als auch den Politikern auf die Füße treten“, sagt er.
Bürgermeisterin an „Katzentisch“ verbannt
Dass er die Bürgermeisterin nicht von Anfang an ins Boot geholt habe, „das war ein Fehler“, gibt Heuss heute zu. Mittlerweile unterstützt die parteilose Mária Berente das Projekt aber, obwohl sie zugibt, dass sie lieber gefragt worden wäre: Und zwar bevor Delegationen von Bundestag und DFB und erneut Journalisten nach Tatárszentgyörgy kamen. Sie will nicht am Katzentisch sitzen, wenn Fremde den Csorbas helfende Hände reichen – Hilfe, die den Scheinwerfer auch grell auf das Rathaus richtet. Was tut die Bürgermeisterin?
Csaba Csorba, Vater und Großvater der Getöteten / Oszvath, n-ost
Die Politikerin hat schon viele unangenehme Fragen beantworten müssen. Warum sie wenige Wochen vor dem Anschlag der mittlerweile verbotenen, rechtsextremen Ungarischen Garde erlaubt hat, durch Tatárszentgyörgy zu marschieren. „Wir hatten keine rechtliche Handhabe, die Demonstration zu verbieten“, beteuert sie auch jetzt wieder. Und sie gibt sich ahnungslos: „Wir sind selber reingelegt worden von der Garde“, die habe nämlich nur marschieren wollen, Kundgebungen seien nicht geplant gewesen.
Nach dem Anschlag marschierte die rechtsextreme Garde durch das Dorf
Die gab es dann aber doch, Anführer der Garde schwadronierten in Tatárszentgyörgy von „Zigeunerkriminalität“ und forderten die Wiedereinführung der Todesstrafe. Mit diesen Slogans konnte die Mutterorganisation, die rechtsextreme Partei Jobbik ein Jahr nach dem Attentat von Tatárszentgyörgy 17 Prozent der ungarischen Wähler überzeugen. Die geistigen Brandstifter sitzen jetzt in Fraktionsstärke nur 60 Kilometer weiter, im Budapester Parlament. Was die Ungarische Garde war – das war schon damals bekannt, als die Parteiarmee von Jobbik in Tatárszentgyörgy aufmarschierte.
Àgnes Daróczi von der ungarischen Roma-Organisation „Phralipe“ (Freundschaft) schüttelt den Kopf. „Wissen Sie“, sagt die engagierte Frau, „Ungarn ist mit der Krise verrückt geworden. Sündenböcke werden gesucht. So kann man keine gesunde Gesellschaft aufbauen“, beklagt sie. Die 56-Jährige will stattdessen ein „Netz aus Solidarität“ spannen. Gemeinsam mit ihrem Mann, der Jurist ist, unterstützt sie die Witwe Csorba in der Auseinandersetzung mit einer deutschen Versicherungsgesellschaft. „Die will die Versicherungssumme für das Haus nicht zahlen“, sagt Daróczi.
Die Hilfe ruft Neider auf den Plan
Bauhelfer, die mit anpacken, juristischer Beistand, politische Solidarität mit den Opfern des Anschlages – den Csorbas tut das gut. „Wir sind froh, dass unsere deutschen Freunde uns helfen“, sagt der junge Krisztián Csorba. Aber nicht alle im Dorf sind das. Die Hilfe für die arme Familie, die durch das Attentat einen zusätzlichen Schicksalsschlag erlitten hat, ruft Neider auf den Plan. „Sie schneiden uns im Dorf“, erzählt der junge Rom. Auch Bürgermeisterin Mária Berente bestätigt, dass es Neid gibt unter den Roma: „Warum die? Uns geht es doch auch schlecht“, gibt sie wieder, was die Leute im Dorf sagen. „Warum haben die Csorbas ein Auto, aber die Kinder gehen nicht zur Schule?“ Mindestens 20 Familien gebe es, die in ähnlich schwierigen Verhältnissen lebten wie die Csorbas. Die Politikerin lässt durchblicken, dass möglicherweise die Falschen Unterstützung bekämen – und nicht die gut integrierten, vorbildlichen Roma. Spaltet die Hilfe also mehr als sie versöhnt?
Es gibt kaum Arbeit im Dorf
Jeder dritte Einwohner von Tatárszentgyörgy gehört der Minderheit der Roma an, Jobs zu finden ist schwierig. Ein bisschen gemeinnützige Arbeit kann die Bürgermeisterin anbieten – Gräben ausheben, Gelegenheitsjobs eben, mehr nicht. Gut bezahlt ist das nicht. Auch die Kassen in Tatárszentgyörgy sind leer. Die Wirtschaftskrise ist schuld daran, aber auch das Attentat. „Die Immobilienpreise sind im Keller“, sagt die Bürgermeisterin, „unser Image ist dahin“. In Tatárszentgyörgy könne man nicht leben, hier müsse man Angst haben – das sei das gängige Bild des Dorfes in der ungarischen Tiefebene. „Nur Negativschlagzeilen“, beschwert sie sich.
Auch, als der in Budapest lebende deutsche Bildhauer Alex Schikowski jüngst ein Mahnmal für die Opfer des Attentats aufstellen wollte, habe es „wieder schlechte Presse gegeben“, beklagt die Mittvierzigerin. Der Gemeinderat hatte ein Mahnmal mitten im Dorf abgelehnt, schlug vor, es am Tatort aufzustellen, quasi vor der Haustür der Csorbas. „Nicht wir haben sie umgebracht“, sagt sie kategorisch. „Die Leute wollen nicht ständig an diese Tragödie erinnert werden.“ Für diese Haltung hat Mária Berente erneut viel Prügel einstecken müssen. Herbert Heuss vom Zentralrat deutscher Sinti und Roma gibt der Herrin im apricotfarbenen Rathaus etwas Rückendeckung. Er hält die Mahnmal-Idee für überstürzt: „Die Dorfgemeinschaft ist noch längst nicht soweit.“ Versöhnung ist Marathon, nicht Kurzstrecke.