Mit Kreativität aus der Krise
Tag für Tag zeichnet Tatjana Trescenko ihre bunten Sommerkleider neu aus. Ohne Sonderangebote findet keine Kundin mehr den Weg in den Werksverkauf der Näherei Roze, der im Herzen der litauischen Hauptstadt Vilnius liegt. Kaum komme sie mit einer neuen Kollektion auf den Markt, müsse sie schon wieder mit dem Ausverkauf beginnen, stöhnt die Direktorin. Um sie herum machen sich alle Boutiquen mit Dumpingpreisen Konkurrenz, seufzt sie. Dabei genießt die Marke Roze für ihr modisches Design und die hochwertigen Stoffe sogar im Ausland einen hervorragenden Ruf. Aber jetzt bestellen auch die Großkunden aus England und Frankreich nur noch in kleiner Stückzahl und drücken Tatjana Trescenko im Preis. „Zum Glück habe ich gut gewirtschaftet und bin nicht vom Konkurs bedroht“, sagt sie.
Als Litauen vor 19 Jahren der ehemaligen Sowjetunion den Rücken kehrte, übernahm Tatjana Trescenko den maroden Staatsbetrieb zusammen mit ihrer Schwester und baute ihn zu einer modernen Näherei um. Und das ganz ohne einen Bankkredit, erklärt die Fabrikantin stolz. Sie habe Angst vor finanzieller Abhängigkeit gehabt und stattdessen gerade in den Boomjahren Geld zurückgelegt. „Wir sind nicht von der Pleite bedroht, weil wir keinen teuren Kredit zurückzahlen müssen. Vielen Unternehmen geht es da schlechter.“
Tatjana Trescenko meistert die Krise mit Selbstgenähtem; Foto: Birgit Johannsmeier
Die weltweite Wirtschaftskrise hat längst auch Litauen erreicht. Dabei galt das Land noch bis vor kurzem als baltischer Tiger: Wolkenkratzer in der Hauptstadt Vilnius und zahllose Neubaugebiete am Stadtrand zeugen vom bisherigen Wirtschaftsboom. Der begann, wie in allen drei baltischen Ländern, mit dem Beitritt zur Europäischen Union im Jahr 2004. Über westeuropäische Banken, vornehmlich aus Skandinavien, wurden mehr als elf Milliarden Euro in die Wirtschaft der ehemaligen Sowjetrepublik investiert. Vor allem die Bauwirtschaft, aber auch zahllose Privathaushalte, verschuldeten sich bis über beide Ohren. Denn erstmals konnten die Menschen in der ehemaligen Sowjetrepublik billige Kredite aufnehmen. Für viele Familien, die oftmals über Generationen in winzigen Plattenbauwohnungen gehaust hatten, sei dank dieser Kredite der Traum von der eigenen Wohnung oder dem eigenen Haus Wirklichkeit geworden, erklärt Raimondas Kuodis von der Litauischen Zentralbank. Aber die internationale Finanzkrise hat den Geldfluss gestoppt. „Die Geldquellen unserer Banken liegen im Westen, bei den Mutterhäusern. Weil die viel verloren haben, bekommen unsere Bankfilialen nicht mehr genug Geld, um die Immobilienkredite zu stützen. Das bedeutet auch, dass die Darlehen teurer werden.“
Litauen war jedoch zu keinem Zeitpunkt vom Staatsbankrott bedroht, erklärt Raimondas Kuodis. Eine wichtige Rolle spielten dabei jene mittelständischen Betriebe wie die Näherei Roze von Tatjana Trescenko. Sie waren auch nach dem Austritt aus der Sowjetunion erfolgreich und produzieren bis heute für den Export. Glück hat Litauen, so Kuodis, auch wegen seiner schleppenden Gesetzgebung gehabt: In Litauen durften die Geldinstitute erst ein Jahr später als die Banken in Lettland freizügig Kredite an jedermann vergeben. Deshalb sei die litauische Immobilienblase nicht so groß wie in Lettland gewesen, und es hätten sich nicht so viele Menschen überschuldet. „In Litauen wurden zwar kleine lokale Geldinstitute gegründet, aber keine große Bank, die unsere Regierung im schlimmsten Fall stützen müsste.“
Anders hingegen in Lettland. Die „Parex“- Bank wollte von der lettischen Hauptstadt Riga aus sogar Deutschland erobern. Aber als es Gerüchte über ihre Zahlungsunfähigkeit gab, hoben die Sparer auf einen Schlag umgerechnet 350 Millionen Euro ab, erklärt Janis Placis von der Lettischen Bankenaufsicht. Das war im November 2008. Um Panik abzuwenden, übernahm der Staat die angeschlagene Bank. „Wenn die Leute angefangen hätten, ihr Geld auch aus anderen Geldhäusern zu holen, wäre unser gesamtes Bankensystem kollabiert“, sagt Janis Placis.
Kurz darauf stand Lettland vor der Staatspleite. Um die Wirtschaft wieder anzukurbeln, bewilligten die Europäische Kommission und der Internationale Währungsfonds der Baltenrepublik einen Kredit in Höhe von 7,5 Milliarden Euro. Als Auflage verlangte der IWF von der lettischen Regierung einen strengen Sparkurs: Viele tausend Angestellte wurden aus dem öffentlichen Dienst entlassen, vor allem Polizisten, Finanzbeamte und Lehrer. Überall wurden Schulen geschlossen oder zusammengelegt, Krankenhäuser dichtgemacht und alle Gehälter um 20 bis 30 Prozent gekürzt.
Als die erbosten Bürger daraufhin protestierten, wurde im vergangenen Jahr zwar die lettische Regierung ausgetauscht, an dem begonnenen Sparkurs änderte sich aber nichts. Auch dem neuen Ministerpräsidenten Valdis Dombrovskis blieb keine andere Wahl, als den Haushalt weiter zu kürzen, wenn er sein Land vor der Zahlungsunfähigkeit bewahren wollte. Er versprach seinen Landsleuten, ab sofort weder hohe Beamte, noch Minister oder Aufsichtsräte von staatseigenen Unternehmen bei den Lohnkürzungen zu schonen. Dass dieses Versprechen bis heute nicht eingelöst wurde, hat der 31jährige Ilmars Poikans den Letten bewiesen. Der Mathematiker hackte sich in die Datenbank des lettischen Finanzamtes ein veröffentliche die Gehaltslisten aller lettischen Beamten im Netz. Unter dem Pseudonym „neo“, benannt nach dem Computerfreak aus dem Film „Matrix“, informierte Ilmars Poikans in Robin-Hood-Manier die Öffentlichkeit über die Verlogenheit ihrer Regierung.
Doch anders als erwartet feierten ihn die Letten zwar als Held, gingen aber nicht, wie die Griechen, protestierend auf die Straße. Im Gegenteil sind viele Letten vielmehr stolz, dass der Präsident der Europäischen Kommission ihr Land als Musterschüler feiert. „Nehmt euch ein Beispiel an Lettland“, mahnt José Manuel Barroso heute gerne das protestierende Griechenland.
Vielleicht sei es ihr gebremstes, nordisches Temperament, meinen die einen. Vielleicht aber auch die Einsicht, dass man aus der Krise nur durch harte Arbeit und mit viel Kreativität komme, meinen die anderen. Immerhin haben die Letten seit ihrem Austritt aus der ehemaligen Sowjetunion vor 19 Jahren schon derart viele Krisen überstanden, dass sie kaum noch etwas wirklich erschüttern kann. „Ruhe bewahren und Tee trinken“, meinen auch Juris und Gennadij. Seit drei Monaten campieren die beiden Männer vor dem lettischen Regierungsgebäude. „Wir wollen essen, arbeiten und wohnen“, steht auf dem Transparent geschrieben, das sie an einen Baum geheftet haben. Manchmal kämen Leute vorbei, die auch gerade ihren Job verloren hätten, sagt Juris. Aber die Politiker im Haus gegenüber würden sie nur belächeln, niemanden störe ihr Protest.
Stattdessen macht sich in Lettland eine neue Begeisterung für „Made in Latvia“ breit. Von Lebensmitteln über lettische Socken und Strumpfhosen, von Spielwaren bis zur Kosmetik: Lettische Waren verkaufen sich plötzlich nicht nur zu Hause oder im Westen, sondern vor allem auch in Russland. In der lettischen Hauptstadt Riga haben die Bürger im letzten Sommer den 33jährigen Russen Nils Uzakovs zum neuen Bürgermeister gewählt. Wie versprochen tritt seitdem eine Wirtschaftsdelegation nach der nächsten aus Russland an, um mit den Letten ins Geschäft zu kommen. Viele Unternehmen gewinnen auf diese Weise neue Geschäftspartner. Denn dank der Krise und hoher Arbeitslosenzahlen können die Firmen wieder Personal zu bezahlbaren Löhnen einstellen und größere Stückzahlen für den Export produzieren.
In der Näherei Roze wird schon die Winterkollektion produziert; Foto: Birgit Johannsmeier
Auch in Tatjana Trescenkos Textilfabrik laufen derzeit die Vorbereitungen auf die Winter- und Herbstproduktion. Die Designerinnen entwerfen neue Formen und Farbkombinationen, an den Maschinen werden Mäntel, Kostüme, Kleider und Hosen genäht. Um konkurrenzfähig zu bleiben, müssten alle ihre Produktivität deutlich erhöhen, sagt die Unternehmerin. Sie hofft, dass Litauen 2014 den Euro einführen kann, wie Ministerpräsident Andrius Kubilius versprochen hat. Allerdings muss das Land dafür sein Haushaltsdefizit reduzieren und bis zum Jahresende kräftig sparen. Lohnsenkungen wie in Lettland sind zu befürchten, zudem soll eine neue Grundsteuer auf Immobilienbesitz eingeführt werden. Trotzdem wäre der Euro für Tatjana Trescenko und ihre Näherei Roze ein riesiger Vorteil. So könne sie noch gewinnbringender ihre Designermode in europäische Hauptstädte exportieren.