20 Semester deutsch-polnische Versöhnung
„20 Semester sind genug“, meint Henryk Raczkowski und streicht über seinen weißen Rauschebart. Seine Augen verschwinden hinter einer dunklen Brille. Der 80-Jährige ist vollständig erblindet. Trotzdem bekäme er wohl nur Einsen, wenn es auf der Deutsch-Polnischen Seniorenakademie Noten für sein Engagement gäbe. Zehn Jahre lang hat Raczkowski zusammen mit dem paritätisch besetzten polnisch-deutschen Vorstand hochkarätige Dozenten ans Pult gebeten, darunter Gesine Schwan, Günter Pleuger, polnische Botschaftsvertreter und zahlreiche Professoren. Themen wie „Privatrecht in Deutschland und Polen“, „Überlegungen zu den gegenwärtigen deutsch-polnischen Beziehungen“ oder „Die Uno – Erfahrungen der internationalen Zusammenarbeit“ hätten auch auf dem Lehrplan anderer Unis stehen können.
Die Deutsch-Polnische Seniorenakademie hat weder Räume noch einen festen Stundenplan. Doch das Semesterprogramm mit den vielen Vorträgen über deutsch-polnische Themen lockt immer mehr Zuhörer an. Etwa 300 Sympathisanten zählt die Institution inzwischen. Genaue Zahlen gibt es nicht, denn keiner muss sich immatrikulieren. Bei Vorlesungen von Gesine Schwan musste schon mal der Hörsaal gewechselt werden, damit alle Platz finden. „Anfangs saßen die Deutschen und die Polen noch getrennt voneinander, jetzt ist alles bunt gemischt“, freut sich Raczskowski. Unter seiner Leitung wurde die Seniorenakademie über Brandenburg und Westpolen hinaus bekannt. Auch Angehörige der jüdischen Gemeinde kommen gern.
Beendet nach 20 Semestern sein Studium: Der 80-jährige
Henryk Raczkowski aus
Slubice / Katrin Lechler, n-ost
Für Henryk Raczkowski hat das Wort Versöhnung einen besonderen Klang: Während der deutschen Besetzung Warschaus verlor er Vater und Bruder, seine Mutter wurde verschleppt. Er wuchs in einem Waisenhaus auf. Als Kind ließ er sich von Ärzten Läuse auf die Innenseiten der Oberschenkel setzen. Aus den mit Blut voll gesaugten Tieren wurden Medikamente für die deutschen Soldaten gewonnen. Dafür bekam er ein Brötchen und ein Kotelett aus Grütze und Kartoffeln. „Als Kinder dachten wir, dass die Deutschen nicht sprechen, sondern nur „Hände hoch“ und „Raus“ schreien können“, erinnert er sich. Er meldete er bei der Kriegsmarine. „Viele Jahre hatte ich eine große Wut auf die Deutschen“. Bis ihm ein Kollege riet, Deutsch zu lernen, um den Gegner besser zu verstehen. „Dadurch habe ich die deutsche Mentalität und Kultur verstanden und gesehen, dass es auch Antifaschisten gab“.
Tatsächlich war Raczkowski schon früh ein Grenzgänger: Als 20-Jähriger Soldat verliebte er sich in eine gleichaltrige Deutsche, die in Koszalin (Köslin) auf gepackten Koffern saß und auf ihre Aussiedlung wartete. Er lieh sich ein Dienstradio und tanzte mit ihr zu den Schlagern von Radio Luxemburg, einem populären Sender jener Zeit. „Wir haben auch zusammen geweint“, erinnert er sich. „Sie hatte Schlimmes mit den Russen erlebt, ich mit den Deutschen“. Wegen privater Kontakte mit Deutschen bekam er in einem Schauprozess fünf Jahre Haft, wurde jedoch nach acht Monaten entlassen.
Vom Naziopfer zum Verfechter der deutsch-polnischen Freundschaft: Für Krzysztof Wojciechowski sind Raczkowskis Erfahrungen eine Lebensgeschichte, die viele Zuhörer der Seniorenakademie teilen. Wojchiechowski ist Leiter des Collegium Polonicum in Slubice. Um die Begegnungen zwischen deutschen und polnischen Senioren zu fördern, stellt er ihnen zusammen mit der Europa-Universität Viadrina Hörsäle und Dolmetscher zur Verfügung. „Es gibt eine große emotionale Spannung bei der älteren Generation“, sagt er. „Schuldgefühle bei den Deutschen und Versöhnungsgefühle bei den Polen“.
Nach 90 Vorlesungen findet Henryk Raczkowski auch ohne seinen Blindenstab in jeden Hörsaal. Bis ein Nachfolger gefunden ist, bereitet er schon mal das nächste Semester vor. Beim Schreiben und Lesen seiner Mails hilft ihm sein 18-jähriger Sohn. „Ich mache das auch für mich“, sagt er. „Meine ehrenamtliche Tätigkeit ist mir so wichtig wie meine Medikamente“.