Rumänien

Die Waisenkinder des Kapitalismus

Viorel* sieht nicht aus, wie man sich ein rumänisches Waisenkind vorstellt. Er trägt ein marineblaues, ordentlich gebügeltes Hemd. Seine Hose wirkt gleichermaßen gepflegt und ein bisschen altmodisch. Der Siebenjährige geht in die Grundschule Nummer Eins in Bukarest. Er ist ein guter Schüler, sagt seine Lehrerin.

Die Grundschule Nummer Eins liegt in der Nähe des Hauptbahnhofs von Bukarest. Früher machten Bilder aus dieser Gegend in internationalen Medien die Runde. Zahlreiche Waisenkinder hielten sich hier auf und inhalierten Verdünnungsmittel aus Plastiktüten. Ihre Existenz verdankten diese Kinder allein dem Abtreibungsverbot unter den Kommunisten. Dieses Verbot ist längst aufgehoben. Doch Waisenkinder gibt es wieder – die Waisen des Kapitalismus.

Viorel wohnt bei seinen pensionierten Großeltern in einer kleinen Wohnung unweit vom Bukarester Hauptbahnhof. Die Rumänen nennen ihn „Erdbeerwaise“: Seine Eltern arbeiten seit drei Jahren in Italien und haben ihn nicht mitgenommen. „Die Großeltern kümmern sich um das Kind, aber irgendwann sind sie auch überfordert“, erzählt Viorels Klassenlehrerin Cristina Senos.

Seit dem Beitritt ihres Landes zur EU vor drei Jahren dürfen Rumänen in den meisten anderen EU-Ländern ohne Sondererlaubnis arbeiten. Inoffiziellen Schätzungen zufolge leben zwei bis drei Millionen Rumänen im europäischen Ausland, meist in Spanien oder Italien. Sie sind Zimmermädchen oder Kellner, pflegen italienische Senioren oder putzen Wohnungen, machen die schwere Arbeit in der spanischen Bauindustrie oder in der Landwirtschaft, wo sie auf großen Plantagen Obst und Gemüse ernten – Tomaten oder Erdbeeren, die später auch in rumänischen Supermärkten angeboten werden. Von den Löhnen der „Erdbeertruppe“, wie ihre Landsleute die rumänischen Gastarbeiter nennen, profitiert das ganze Land: Das nach Hause überwiesene Geld kurbelt den Konsum an und gleicht das Staatsdefizit aus. Doch mehr und mehr werden auch die Kosten spürbar.

Laut Kinderschutzbehörde müssen mehr als 85.000 Kinder ohne ihre im Ausland arbeitenden Eltern zurechtkommen. Dass diese Zahl extrem konservativ ist, geben selbst die Behörden zu. Eine Studie der Soros-Stiftung für eine offene Gesellschaft spricht von 170.000 Erdbeerwaisen, auch diese Zahl gilt als optimistisch. Laut der Studie leiden die Kinder enorm unter der Abwesenheit ihrer Eltern. Viele brechen die Schule ab, bekommen Depressionen oder werden drogenabhängig. Zwischen 2006 und 2009 haben mindestens 14 Erdbeerwaisen Selbstmord begangen.

Auch Viorel fehlen seine Eltern. Die Familie des siebenjährigen Jungen ist unter der Spannung, die die ständige Abwesenheit der Eltern mit sich bringt, inzwischen zerbrochen. Vater und Mutter haben keine Ausbildung, sie arbeiten ohne festen Vertrag. Ihre Aufträge sind seit der Wirtschaftskrise unregelmäßig geworden, das Geld fließt nicht mehr so üppig. Die finanziellen Schwierigkeiten haben zur Trennung geführt. Dennoch kommt für Viorels Eltern, wie für für viele andere, eine Rückkehr in die Heimat nicht in Frage. Denn die sozialen Auswirkungen der Krise und die brutalen Wechselkursschwankungen treffen Rumänien noch härter als Griechenland oder Spanien: Seit der Internationale Währungsfonds Rumänien mit einem Hilfspaket unter die Arme greift, ist die Arbeitslosigkeit gestiegen, der Staat kürzt drastisch die öffentlichen Ausgaben.

Aus Spenden der Privatwirtschaft finanziert die NGO Save the Children deshalb seit Mai ein erstes Projekt, das die Probleme der Waisenkinder angeht. Die Organisation hat in acht ausgewählten Grundschulen – auch in Viorels Grundschule Nummer Eins – Nachschulzentren eingerichtet, wo zur Zeit insgesamt knapp 250 Kinder betreut werden. Die Zentren bieten psychologische und pädagogische Beratung, Hilfe bei den Hausaufgaben, aber auch Freizeitaktivitäten wie Zoo- oder Museumbesuche. „Alle Nachschulzentren verfügen außerdem über Computer mit Internetzugang. Das ermöglicht die Kommunikation mit den Eltern“, sagt Liliana Bibac, Projektleiterin bei Save the Children.

Ein Teil des Schulgebäudes wurde von Save the Children saniert. Der neue Holzboden riecht noch nach Lack, im Klassenzimmer steht ein Beamer. Projektleiterin Bibac zeigt sich optimistisch: „Bis jetzt haben alle Eltern unser Angebot angenommen“. Das Projekt hilft den Kindern, findet auch Viorels Klassenlehrerin Cristina Senos. Das Verhalten des kleinen Jungen habe sich in den wenigen Wochen schon geändert. „Am Anfang war er sehr schüchtern und hatte große Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben“, sagt die Lehrerin. „Inzwischen hat er sich aber mit den anderen Kindern angefreundet. Neulich habe ich seine Großmutter getroffen, und sie war sehr stolz auf Viorels Noten.“ Das Nachschulzentrum bereitet sich gerade auf eine kleine Geburtstagsparty vor: Viorel wird bald acht.

*Der Name des Kindes wurde aus rechtlichen Gründen geändert.


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