Streit noch vor dem Amtseid
„Ungarisch-slowakische Schlacht – vorwärts in die neue Eiszeit“, so eine Titelzeile am Tag, nachdem die Regierungen in Budapest und Bratislava ihre Staatsbürgerschaftsrechte reformiert haben. Die etwa 2,5 Millionen Auslandsungarn sollen künftig auch einen ungarischen Pass bekommen – neben dem ihrer Heimatländer wie der Slowakei. Die Regierung in Bratislava reagierte prompt: Slowakische Ungarn, die den Doppelpass beantragen, verlieren den slowakischen.
Durch den ungarischen Doppelpass bekämen etwa die Magyaren aus der Karpato-Ukraine die Eintrittskarte für die EU, durch die Hintertür würde der Schengen-Raum erweitert. „Für uns ändert sich aber nicht viel“, betonte Zoltán Dévavári, Vertreter der etwa 300.000 serbischen Ungarn, im ungarischen Fernsehen. „serbische Staatsbürger dürfen seit Dezember schon ohne Visum in die EU reisen“. Allerdings, so betont der Auslandsungar, sei das Gefühl der nationalen Zusammengehörigkeit wichtig. „Wir wissen jetzt, wohin wir gehören.“
Der slowakische Gesandte in Budapest, Peter Weiss, sieht im Doppelpass für die Auslandsungarn einen„weichen Revisionismus“, der künftige ungarische Außenminister János Martonyi beklagt, dass in Bratislava „die Ungarnfeindlichkeit wächst“ – Eiszeit zwischen Bratislava und Budapest.
Hintergrund der Orbán-Initiative ist, dass Ungarn durch den Friedensvertrag von Trianon als Kriegsverlierer 1920 zwei Drittel seines Territoriums an die Anrainerstaaten verloren hat. Deshalb leben heute etwa 2,5 Millionen Ungarn in den Nachbarstaaten. „Viktor Orbán möchte die Folgen von Trianon lindern“, sagt Kai-Olaf Lang von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. „Das ist das große politische Projekt der Konservativen“. Dafür wolle der künftige ungarische Regierungschef Orbán neue staatsbürgerliche Rechte und wirtschaftliche Verflechtungen schaffen. „Dafür nimmt er auch Krach mit dem Nachbarn Slowakei in Kauf“, so Lang.
Entsprechend trotzig trat Zsolt Semjén, der künftige Stellvertreter Viktor Orbáns in der Regierung im Fernsehen auf. „Wir reden mit jedem, der mit uns reden will“, betonte der Christdemokrat, „aber wir lassen unser natürliches Recht nicht von den Wellenschlägen der Innenpolitik eines anderen Landes bestimmen“. Semjén spielt damit auf den Wahlkampf in der Slowakei an, wo am 12. Juni ein neues Parlament gewählt wird. „Der Fidesz ist verantwortlich für die Folgen“, urteilt der Fraktionschef der ungarischen Sozialisten, Attila Mesterházy und schiebt der Regierungspartei den schwarzen Peter zu.
Ungarische Zeitungskommentatoren linker Zeitungen sehen in dem krachenden Auftakt der Regierung Orbán einen neuen Krisenherd in Mittelosteuropa entstehen. Der „Tango Orbán-Fico“ versuche allerdings von der Innenpolitik abzulenken. Viktor Orbán hat zwar Steuersenkungen versprochen. Aber er muss noch EU und IWF davon überzeugen, ihm Schuldennachlass zu gewähren. Denn die Kassen des Landes sind leer. Wohl auch deshalb stehen nationale Rhetorik und Symbolpolitik derzeit im Mittelpunkt.
Statt Antworten auf die Frage nach Arbeitsplätzen zu geben und einen Ausweg aus der Wirtschaftskrise zu weisen, hebt die künftige Regierung Orbán zweitrangige Themen auf die Tagesordnung. So will sie den Tag der Unterzeichnung des Friedensvertrages von Trianon (4.Juni) zum „nationalen Gedenktag“ machen. Offenbar möchte Viktor Orbán den nationalen Taumel bis zu den Kommunalwahlen im Herbst noch etwas wach halten, um seine Machtbasis auch in den Kommunen auszubauen. Danach, da sind sich Beobachter sicher, werden Kürzungen unausweichlich.
Doch die nationalistische Rhetorik wird die zahlreichen Obdachlosen, die sich jeden Abend in den U-Bahnschächten und in einer Passage vor dem Parlament auf Kartons betten, kaum satt machen. Sie suchen weiter in den Mülltonnen der ungarischen Hauptstadt nach etwas Essbarem. Und es werden immer mehr. Mit dem Amtseid am 29. Mai übernimmt Viktor Orbán auch Verantwortung für sie.