Tschechien

Die Kleinen entscheiden

Am Wahlstand von TOP 09 nahe dem Prager Wenzelsplatz halten fast im Minutentakt potenzielle Wähler an und nehmen das Wahlprogramm der jungen, konservativ-liberalen Partei mit. „Ich habe bisher immer die einst stärkste Partei im Land gewählt, die rechte ODS“, sagt der 34-jährige Denis, der seinen Nachnamen nicht verraten möchte. „Aber jetzt entscheide ich mich zwischen TOP 09 und den Grünen. Der Spitzenkandidat von TOP 09, Karel Schwarzenberg hat mich schwer beeindruckt.“

Etablierte Parteien erreichen die Wähler nicht

Der in Prag heimisch gewordene Sprachlektor aus Mittelböhmen gehört zu jener Gruppe junger Menschen, die sich von den etablierten Parteien des Landes, der konservativen Bürgerpartei ODS und der sozialdemokratischen ČSSD, nicht mehr angesprochen fühlen. Ihre Stimmen könnten bei der Parlamentswahl am kommenden Wochenende (28./29. Mai) entscheidend sein. Die erst im vergangenen Jahr entstandene TOP 09, die in Umfragen 14 Prozent der Stimmen erhält, könnte bei den Koalitionsverhandlungen zum Zünglein an der Waage werden.

Die momentan stärkste Partei, die sozialdemokratische ČSSD, rechnet bei der Wahl mit knapp einem Drittel der Stimmen, muss allerdings befürchten, dass ihr zur Regierungsbildung ein Koalitionspartner fehlt. Die Kommunisten mit ihren voraussichtlich etwas mehr als zehn Prozent der Stimmen werden dafür nicht ausreichen.

Frustriert von Korruption und Vetternwirtschaft

„Wenn Jiří Paroubek nach den Wahlen an der Spitze der Sozialdemokraten bleibt, schließen wir eine Koalition mit der ČSSD aus“, sagt Radim Šenk, der am Wahlstand in Prag für die TOP 09 wirbt und unter der Nummer 34 auf ihrer Wahlliste steht. Auch andere Gruppierungen haben sich deutlich gegen eine Koalition mit der ČSSD ausgesprochen: die liberale Partei Věci veřejné (VV), der 11,5 Prozent der Stimmen vorausgesagt werden, sowie die ODS, die mit mehr als 20 der Stimmen rechnet.

Gerade die ODS hat erheblich dazu beigetragen, dass ein Großteil der Wähler sich desillusioniert von den etablierten Parteien ab- und neuen Bündnissen zuwendet. Anfang April warf Gewerkschaftsführer Jaromír Dušek der ODS im tschechischen Fernsehen vor, bei der Vergabe von Staatsaufträgen bestechlich zu sein und Haushaltsgelder zu verschwenden. In den vergangenen vier Jahren, so Dušek, hätten bei einer fairen Vergabe staatlicher Aufträge 15 Prozent der öffentlichen Gelder im Staatshaushalt bleiben können, anstatt in Form von Provisionen an Politiker und Privatpersonen zu fließen.

Junge Wähler entscheiden emotional

Von einer derartigen Politik frustriert, entscheiden junge Wähler in Tschechien vor allem emotional. Viele von ihnen kennen die Wahlprogramme der neuen Parteien kaum und lassen sich in sozialen Online-Netzwerken wie Facebook zur Wahl von Parteien überreden, die sie wie die TOP 09 aus Spargründen dazu bewegen wollen, künftig ein Viertel der Arztkosten aus eigener Tasche zu zahlen. Was ein solches Programm in Zeiten der Wirtschaftskrise und bei einer Arbeitslosigkeit von fast zehn Prozent in einer künftigen Koalition anstellen kann, bleibt offen.

Doch nicht nur auf die Stimmen der Jungen setzen die neuen Parteien. „Überrede Deine Oma“, fordert ein Videoclip auf dem Online-Portal Youtube. Prominente Schauspieler wie Martha Issová und Jiří Mádl erklären darin, dass ältere Menschen sich meist selektiv nur an die guten Seiten der alten Zeit erinnerten und man sie deshalb zur Wahl der neuen Bündnisse überzeugen müsse.

„Die Wähler müssen die Schulden zahlen“

Ältere Wähler spielen bei den bevorstehenden Wahlen eine wichtige Rolle. Jaroslava Mácová ist eine von ihnen. Sie will am Wochenende eine klaren Kopf behalten: „Mich und meine Altersgenossen hat die rechte Seite des politischen Spektrums absolut enttäuscht, ich werde eine der linken Parteien wählen“, sagt die 54-Jährige.

Menschen wie Mácová trafen die Reformen der bisherigen Regierungen an der Spitze mit ODS oder auch ČSSD am stärksten. „Die Miete meiner Wohnung stieg innerhalb von 13 Jahren um 300 Prozent, mein Nettogehalt hat sich in dieser Zeit nur um lächerliche 15 Prozent erhöht“, sagt die ehemalige Angestellte. „Ich kann mir weder eine von den rechten Parteien geforderte private Rentenvorsorge noch ein Fernstudium leisten“, so die alleinstehende Frau.

Mehr Sorgen als ihre persönliche Situation macht Mácová allerdings die Lage des tschechischen Staates. „Der Staat hat mehrere Milliarden Schulden, es werden keine neuen Arbeitsplätze geschaffen und bei der Produktion haben wir unsere stärksten Branchen wie Porzellanproduktion, Technologien und Maschinenbau vernachlässigt. Jetzt sind wir für Europa nur als noch Markt interessant“, bilanziert die Pragerin. „Über seine Verhältnisse zu leben, bringt dem Staat nichts“, sagt sie, „die Zinsen für unsere Schulden müssen wir irgendwann zahlen.“


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