„Nicht fertig - aber benutzbar“
100 Tage vor Beginn der EURO 2012 in Polen und der Ukraine wirkt der Gedanke an ein sommerliches Fußballfest angesichts des hartnäckigen Frosts und Schnees noch wie eine Fatamorgana. In Polen hat der Liga-Alltag gerade erst wieder begonnen, Spieler und Fans bibbern auf gefrorenen Spielfeldern und verschneiten Tribünen.
Heiß her geht es dagegen in der Diskussion um die starken Verzögerungen bei der Fertigstellung des Nationalstadions in Warschau. Für den Zustand, in dem sich die Stadien und vor allem die Tourismus- und Verkehrsinfrastruktur des Landes präsentieren, hört man immer häufiger die Formel: „Nicht fertig, aber benutzbar.“
Bereits im vergangenen September sollte das neue „Stadion Narodowy“ (Nationalstadion) in Warschau eröffnet werden. Nun konnte Ende Januar unter dem Motto „Oto jestem“ („Hier bin ich“) endlich eine Art Tag der offenen Tür plus Popkonzert durchgeführt werden. Das wenige Tage später geplante Fußballspiel um den polnischen Supercup zwischen Meister Wisla Krakau und Pokalsieger Legia Warschau musste allerdings ausfallen. Zum einen erwies sich die Vorstellung als illusorisch, bei minus 15 Grad innerhalb weniger Tage einen bespielbaren Rasen im Stadion zu verlegen. Zum anderen bemerkten die Sicherheitskräfte plötzlich, dass es in der nach neuesten internationalen Standards errichteten Arena keine Zäune gab, um so verfeindete Fangruppen wie jene von Wisla und Legia wirkungsvoll voneinander zu trennen.
Die Öffentlichkeit staunte über das absurde Theater. In dessen Verlauf trat schließlich der verantwortliche Chef der Betreibergesellschaft, Rafal Kapler, von seinem Posten zurück – allerdings nicht, ohne die ihm für die Übergabe eines fertigen Stadions vertraglich zustehende Prämie von umgerechnet 150.000 Euro einzufordern. Nun sollen die Gerichte klären, ob ein Stadion, das zwar begehbar, aber nicht fußballtauglich ist, als „fertig“ bezeichnet werden kann. Die zuständige Ministerin Mucha hat die Vertragsunterlagen der Staatsanwaltschaft übergeben.
Umso größer ist die Freude in Warschau nun darüber, dass die Sicherheitsbehörden am vergangenen Dienstag grünes Licht gaben für das Länderspiel Polen gegen Portugal im „Narodowy“ am 29. Februar – also genau 100 Tage vor dem Anpfiff zur EURO 2012. Gregorz Lato, Präsident des Polnischen Fußballverbands PZPN, ist glücklich darüber, das neue Prestigeobjekt „endlich auf Herz und Nieren testen“ zu können. Er stellt außerdem gleich zwei weitere Spiele vor der EM in Aussicht: das abgesagte Supercupfinale im April sowie ein weiteres Spiel „mit einem europäischen Spitzenklub gegen eines der Warschauer Erstligateams“. Der Terminplan ist allerdings straff, denn ab 9. Mai, also einen Monat vor dem Eröffnungsspiel, regiert die UEFA über alle EM-Stadien.
Beim EM-Partner Ukraine dagegen sind die Stadien an den Austragungsorten fertig. Auch das EM-Stadion in Lwiw (Lemberg) steht. Dort tritt die DFB-Elf am 9. Juni gegen Portugal an. Erste Testspiele hat die Arena Lwiw bereits gut überstanden. Lediglich am Flughafen in Kiew drehen sich noch die Baukräne.
Sorgen machen sich die EM-Verantwortlichen in der Ukraine derzeit aber noch wegen der geringen Englischkenntnisse der Ordnungshüter. Zu Sowjetzeiten haben die wenigsten in der Schule Englisch gelernt. Deshalb werden über 30.000 Staatsdiener zum Sprachunterricht geschickt. Darunter Sanitäter, Polizisten sowie Zoll- und Grenzbeamte. Allein in Kiew büffeln momentan 5.000 Sicherheitskräfte Englisch. Die Ukraine erwartet eine Million fußballbegeisterte Gäste: „Wir müssen mit den Fans kommunizieren können“, hat ein Polizeisprecher erkannt.
Tatjana Filipowitsch hat es nicht leicht. Die Englischlehrerin steht in einem Klassenraum der Taras-Schewtschenko-Universität in Kiew. Normalerweise unterrichtet sie Studenten. Doch heute sitzen ihr 25 Polizisten gegenüber. Die Lehrerin will wissen, was auf Englisch „Wie komme ich zum Fußballstadion?“ heißt. In der Klasse herrscht Schweigen. Zögerlich meldet sich ein Unteroffizier zu Wort. „How can I get to... to... to the stadium?“, antwortet er unsicher.
„Einige lernen schnell, doch viele merken sich nicht mal die einfachsten Wörter“, klagt Filipowitsch. Zum Schluss zeigt sie der Klasse einen Lehrfilm der britischen Polizei. Auf dem Video ist ein britischer Ordnungshüter zu sehen, der einem Autofahrer höflich den Weg erklärt. „Sowas sehe ich zum ersten Mal“, sagt einer der Ukrainer. Die anderen lachen. Ukrainische Polizisten würden eher befehlen, erklärt Filipowitsch später. Sie seien es nicht gewohnt, Auskünfte zu erteilen.
Während der EM sollen in der Ukraine außerdem auch tausende Studenten als Helfer eingesetzt werden. Unter den jungen Studierenden sind Fremdsprachen nämlich weit verbreitet, viele junge Leute sprechen Englisch oder Deutsch. Mit dabei ist auch die 19-jährige Irina. Sie studiert an der Kiewer Linguistischen Universität Germanistik und möchte während der EM Berufserfahrungen sammeln. „Dafür bekomme ich zwar kein Geld“, sagt die aufgeweckte Studentin, „ich freue mich aber darauf, ausländischen Fans helfen zu können.“
Und Hilfe wird nötig sein: Schon jetzt steht fest, dass es zu wenig Hotels gibt. Die 9.000 Betten in Lwiw seien bereits ausgebucht, so die Organisatoren. Schwedische und holländische Firmen organisieren bereits Zeltplätze für die Fans.
Auch die Polen reagieren erfinderisch auf die stark begrenzten Hotelkapazitäten: Im polnischen Ostseebad Sopot, in der Nähe des EM-Spielorts Gdansk (Danzig), möchte man Fußballtouristen auf Booten im Yachthafen unterbringen. „Das ist ein recht umfangreiches Angebot“, sagt Blazej Kucharski, Chef des örtlichen Tourismusvereins. „Im Hafen liegen 107 Boote, bis zu 24 Meter lang, und auf jedem können mehrere Personen untergebracht werden.“
Eine attraktive Alternative zum Campingplatz allemal, und angeblich günstiger als ein Mittelklasse-Hotelzimmer. Ob aber die Yachtbesitzer die Idee genauso gut finden wie der Tourismusverein, bleibt abzuwarten.