„Trianon verrecke“
Viktor Orbán hat das Thema Auslandsungarn zur Chefsache erklärt. Noch am Tag der konstituierenden Sitzung im Budapester Parlament stellte die designierte konservative Regierung das neue Staatsbürgergesetz vor. Es gesteht den mehr als zwei Millionen Landsleuten in den Anrainerstaaten Slowakei, Karpato-Ukraine, Rumänien und Serbien die doppelte Staatsbürgerschaft zu. Weitere Spitzenpolitiker der künftigen Regierung legten nach: Der 4. Juni solle per Gesetz zum „Tag der nationalen Einheit“ erklärt werden, forderten der künftige stellvertretende Ministerpräsident Zsolt Demjén von den verbündeten Christdemokraten (KDNP) und das Fidesz-Vorstandsmitglied László Kövér. An diesem Tag unterzeichnete im Jahr 1920 die ungarische Delegation im französischen Trianon einen Friedensvertrag, durch den der Kriegsverlierer Ungarn zwei Drittel seines Territoriums an die Anrainerstaaten verlor.
„Trianon verrecke“, so hatten die 47 Abgeordneten der rechtsextremen Jobbik beim Einzug ins Parlament vor einer Woche skandiert. Den Extremisten geht die Fidesz-Initiative für die doppelte Staatsbürgerschaft nicht weit genug, sie kämpfen für eine Revision des Friedensvertrages und für ein Wahlrecht der Auslandsungarn. Die Initiative Viktor Orbáns sorgte prompt für Ärger mit dem Nachbarn Slowakei. Die Regierung in Bratislava zog ihren Budapester Botschafter ab. „Ein klassischer Fehlstart der Regierung Orbán“, urteilt Kai-Olaf Lang von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.
Die links-nationalistische Regierung in Bratislava, die selbst kurz vor Parlamentswahlen steht, sieht Orbán im gleichen revisionistischen Fahrwasser wie die rechtsextreme Jobbik. Die Spannungen zwischen Budapest und Bratislava werden wahrscheinlich auch die ungarische EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2011 überschatten, glaubt Wissenschaftler Lang. Diese Entwicklung sieht auch Manuel Sarrazin, Europaexperte der Grünen im Bundestag, mit Sorge: „Wir brauchen einen ordentlichen EU-Vorsitz“, sagt er. Und dazu gehörten auch gute Beziehungen mit den Nachbarn. Dass die sich verschlechtern, nehme Viktor Orbán für das „Kernelement der Politik des Fidesz“ in Kauf, meint Osteuropa-Experte Lang. Das Ziel des künftigen ungarischen Ministerpräsidenten sei es, die ungarische Nation in der erweiterten Europäischen Union zusammenzuführen, „indem er neue staatsrechtliche Bindungen und wirtschaftliche Verflechtungen zu den Ungarn in den Nachbarländern knüpft“.
Das sei aber kein „schleichender Revisionismus“, wie von der Slowakei befürchtet. Vielmehr versuche Viktor Orbán, den Rechtsextremen von Jobbik die Themen wieder zu entreißen. Ein schwieriger Spagat, will Orbán nicht auch in Brüssel Porzellan zerschlagen. Orbán, der auch stellvertretender Vorsitzender der konservativen EVP-Fraktion im Europaparlament ist, „muss beweisen, dass er sich von Jobbik abgrenzen kann“, fordert der Grünen-Politiker Sarrazin.
Wer aber auf eine klare Haltung gegenüber Jobbik hofft, der werde enttäuscht, glaubt Wissenschaftler Lang. Orbán habe geschwiegen, als der Jobbik-Chef Gábor Vona seinen Eid im Parlament vor einer Woche im Wams der verbotenen Ungarischen Garde abgelegt hat. „Das ist typisch Orbán“, urteilt der Osteuropa-Experte, der diese Unschärfe für kalkulierte Machtpolitik hält. Mit seinem Vorstoß für eine doppelte Staatsbürgerschaft „will Orbán Wähler einfangen, die zwischen Fidesz und Jobbik schwanken“, ist auch Kristóf Szombati überzeugt, der Auslandsbeauftragte der grünen Partei LMP, die mit 16 Abgeordneten erstmals ins Parlament einzog. Denn die Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament an der Donau reicht Viktor Orbán nicht.
Im Herbst will der Konservative seine Macht bei den Kommunalwahlen weiter ausbauen. „Er strebt eine Präsidialdemokratie an“, meint Grünenpolitiker Szombati, „nach dem Motto: Am Ende wird immer Papa sagen, wo es lang geht“.