Sparen, das geht doch
Rosa Schukowa ist ständig in ihrer Strickerei unterwegs und kontrolliert die Qualität der Strümpfe. Spontan hält sie bei der einen oder anderen Näherin an, greift in den Stapel roséfarbener Strumpfhosen und streicht mit einem Finger über die Nähte. Noch aufmerksamer wird Rosa, wenn zwischen dem Strickmaschinengeklapper der lettische Ministerpräsident im Rundfunk zu hören ist. Denn was Valdis Dombrowskis über das zaghafte Wirtschaftswachstum berichtet, kann die Strumpffabrikantin nur bestätigen: Mitten in der Finanzkrise war ihr Hauptkunde abgesprungen, um billigere Strümpfe aus China zu importieren. Doch Rosa ließ sich nicht beirren – und gründete eine eigene Strumpfmarke für den lettischen Markt. „Erst war der Verlust des Kunden ein Schock“, sagt sie. „Aber es klappt mit der eigenen Marke. Die Leute kaufen mein lettisches Produkt.“
Anfang vergangenen Jahres stand Lettland, wie Griechenland heute, vor dem Staatsbankrott. Dabei hatte das Land seit seinem Beitritt zur Europäischen Union im Jahr 2004 einen gigantischen Wirtschaftsboom erlebt. Über Bankfilialen aus dem Westen war viel Geld in die ehemalige Sowjetrepublik geflossen, erstmals konnten die Letten günstige Kredite aufnehmen. Doch die drohende Zahlungsunfähigkeit der einheimischen Parex Bank und die internationale Finanzkrise stoppten den Geldfluss. Firmen gingen pleite, die Arbeitslosenquote verdreifachte sich binnen eines Jahres. Viele Letten konnten ihre Kredite nicht mehr zurückzahlen, erinnert sich Teodors Tverijons vom Lettischen Bankenverband: „Wir hatten plötzlich 1.000 Arbeitslose am Tag, aber kein Geld, um in die Unternehmen und die lettische Wirtschaft zu investieren.“
Unternehmerin Rosa Schukowa ist mit ihrer eigenen Strumpfhosenmarke erfolgreich / Birgit Johannsmeier, n-ost
Zur Ankurbelung der Wirtschaft erhielt Lettland einen Kredit von über 7,5 Milliarden Euro vom Internationalen Währungsfond und der EU-Kommission. Griechenland wurden mehr als 30 Milliarden Euro zugesagt. Auch in Lettland war der Kredit an strenge Auflagen geknüpft: Viele tausend Angestellte im öffentlichen Dienst mussten gehen, vor allem Polizisten und Finanzbeamte. Schulen wurden geschlossen, Krankenhäuser zusammengelegt, Ministerien aufgelöst und nahezu alle Gehälter um bis zu 30 Prozent gekürzt.
„Nehmt euch ein Beispiel an Lettland“, ermahnte José Manuel Barroso, der Präsident der Europäischen Kommission, das protestierende Griechenland. „Kräftig sparen, das geht doch.“ Denn anders als Athen hat die lettische Hauptstadt Riga bisher nur eine Protestaktion im Januar 2009 erlebt. Seitdem halten die Letten still. Nicht einmal die illegale Information eines Hackers über extrem hohe und ungekürzte Beamtengehälter konnte die Leute in der kleinen Baltenrepublik zu Protesten bewegen. Es liege wohl an der nordischen Mentalität, meinen die einen. Seit dem Austritt aus der ehemaligen Sowjetunion hätten sie in Lettland schon viel schlimmere Krisen erlebt, meinen die anderen.
Nur wenige machen auf ihre Lage aufmerksam. Und dann werden sie kaum beachtet. „Wir wollen essen, arbeiten und wohnen“, steht auf dem Transparent geschrieben, das Juris und Gennadi an einen Baum vor dem lettischen Regierungsgebäude in Riga geheftet haben. Seit drei Monaten campieren die beiden Männer vor dem lettischen Regierungsgebäude. Juris war als Fahrer angestellt, dann ging sein Betrieb pleite. Manchmal kämen Leute vorbei, die auch gerade ihren Job verloren hätten, sagt Juris. Aber die Politiker im Haus gegenüber würden sie nur belächeln, niemanden störe ihr Protest. Mit Blick auf die Krawalle der Griechen sagt Juris: „Vielleicht geht’s uns Letten noch nicht dreckig genug.“ Er trinkt einen Schluck Tee – und hofft darauf, dass die Politiker die Quittung für ihren Sparkurs im kommenden Herbst erhalten. Dann stehen Parlamentswahlen an.