Generationswechsel in den Parteispitzen
Der Jahrestag des Massakers von Katyn ist ein wichtiger Gedenktag für Polen, deshalb sollten zu der Veranstaltung am Samstag die hochrangigsten und bekanntesten Politiker fliegen. „Die Creme de la Creme“, sagte ein Mitglied der Linken – die Inhaber der höchsten Ämter im Staat, Spitzenpolitiker aus jeder Partei. Für einige war die Teilnahme eine patriotische Pflicht, für andere ein persönliches Bedürfnis – wie für die Präsidentengattin Maria Kaczynska, deren Onkel in Katyn ermordet worden ist, oder die ehemalige Ministerin Grazyna Gesicka, die ihres Großvaters gedenken wollte.
Doch stattdessen wurde am Samstag das polnische öffentliche Leben buchstäblich dezimiert. Neben dem Präsidenten Lech Kaczynski und seiner Frau verlor Polen bei der Flugzeugkatastrophe im russischen Smolensk u.a. 19 Parlamentsmitglieder, drei Vizeminister, die Sejm- und Senatsvizemarschälle, den Zentralbankpräsidenten, den Chef des Nationalsicherheitsbüros, die Legende von Solidarnosc Anna Walentynowicz, den letzten Präsidenten im Exil, den Chef des Generalstabs und die gesamte Armeeführung sowie beinahe die gesamte Belegschaft der Präsidentenkanzlei. Insgesamt 96 Menschen. Binnen weniger Sekunden waren zahlreiche Staatsämter verwaist.
„Was sollen wir jetzt tun? Was wird mit Polen passieren?“, fragen sich die Polen, die sich vor dem Präsidentenpalast in Warschau versammelt haben. Trotz des großen Schocks tauchen nun Fragen nach den Folgen der Katastrophe auf. Eine solche politische Tragödie erlebte in der jüngeren Geschichte weder Polen noch ein anderes europäisches Land. Das Ausmaß ist unvorstellbar.
„Trotz der unbeschreiblichen Tragödie und des enormen Verlustes funktioniert der Staat ununterbrochen weiter“, versicherte der Marschall des Senats Bogdan Borusewicz. Bei einigen Posten haben die Stellvertreter die Aufgabe übernommen, wie in der Armee, bei den anderen ist dies jedoch nicht oder nur beschränkt möglich. Die meisten Ämter müssen neu besetzt werden. Ins polnische Parlament, den Sejm, ziehen neue Parlamentarier ein – jene Bewerber, die auf den Wahllisten die nächsthöchste Stimmzahl bekommen haben. Für die Nachbesetzung des Senats werden zusätzliche Wahlen stattfinden. Der neue Zentralbankpräsident wird auf Vorschlag des Präsidenten vom Sejm nominiert.
Zuvor muss jedoch ein neuer Präsident gewählt werden. Vorläufig, so sieht es die Verfassung vor, übernimmt Parlamentspräsident Bronislaw Komorowski dessen Pflichten. Doch diese Situation ist für ihn recht unkomfortabel: Komorowski wurde vor kurzem von seiner Partei, der Bürgerplattform, als Präsidentschaftskandidat nominiert. Somit war er als Gegenkandidat zu Lech Kaczynski aufgestellt. Beobachter weisen jedoch darauf hin, dass er nun als geschäftsführendes Staatsoberhaupt sehr vorsichtig mit seinen vorläufigen Befugnissen umgehen müsse, damit ihm nicht vorgeworfen werden kann, diese Situation auszunutzen.
Die Wahlen, planmäßig für den Herbst vorgesehen, werden nun vorgezogen. Laut Verfassung hat Komorowski jetzt 14 Tage Zeit, um neue Wahlen auszuschreiben. Diese müssen dann binnen weiterer 60 Tagen stattfinden. Spätestens am 20. Juni muss also ein neuer Präsident gewählt werden. Einfach wird dies nicht. Denn die politischen Eliten, die sich nach 1989 zum großen Teil noch aus der Solidarnosc-Bewegung entwickelt haben, wurden bei der Katastrophe deutlich dezimiert.
Jede Partei ist davon betroffen, denn Vertreter aller Parteien waren an Bord des Flugzeugs. Besonders schwer ist die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), die Partei von Kaczynskis Bruder Jaroslaw, betroffen. Denn nicht nur ihr Präsidentschaftskandidat Lech Kaczynski ist tot, sondern auch ein Großteil der wichtigsten Parteifunktionäre. Auch der Kandidat der Linken, Jerzy Szmajdzinski, ist bei dem Unfall gestorben – ebenso wie prominente Parteikollegen, darunter zwei ehemalige Ministerinnen.
Beide Parteien, PiS und Linke, müssen sich jetzt neu orientieren und ihre erste Reihe neu aufbauen. Ein Generationswechsel sei nötig, schätzen Beobachter – eine schwierige Herausforderung in der kurzen Zeit vor den Wahlen. Es werde eine ganze Weile dauern – länger als die einwöchige Trauerzeit – bis sich die polnische Politik aus der Krise herausholt.