Bosnien-Herzegowina

Kampf gegen die Minen

Bombeneinschläge, Pfeifen von Granaten und Schreie – so klingt Krieg in unseren Ohren. Bei Emil Benders entscheidender Schlacht ist es ganz still. So still, dass die Kameraden, die ihn aus dem Minenfeld herauslotsen, flüstern müssen, damit die feindliche Truppe sie nicht hört. Er robbt zurück auf dem 50 Zentimeter breiten Wegstreifen, den er selbst entmint hat. Meter für Meter, blind durch die gerade detonierte Mine, ein Bein schwer blutend. Die nächste Mine könnte ihn töten – oder die feindliche Armee, die nur 20 Meter weiter in Deckung liegt.

„Ich habe Schwein gehabt“, sagt Emil Bender, 39, heute, wenn er über seine Verletzung aus dem Bosnienkrieg spricht. Ein Auge konnte durch Notoperationen in Deutschland gerettet werden. Und seine Prothese wurde so gut angepasst, dass er beim Aufwachen anfangs den fehlenden Unterschenkel vergaß und aus dem Bett fiel.

Was 1992 mitten im Bosnienkrieg passierte, ist heute jederzeit wieder möglich, mitten im Frieden: Wenn Kinder im Freien spielen, bei Ausflügen oder bei landwirtschaftlichen Arbeiten, beim Holzholen im Wald. Die Armeen der Serben, Bosnier und Kroaten ließen bei ihrem Abzug 1995 ungezählte Minenfelder zurück – zum einen, weil sich die Frontlinien im Krieg ständig verschoben und mit immer neuen Minenstreifen abgesichert wurden. Zum anderen, weil keine Armee die Verlegung der Antipersonen-Minen vollständig dokumentiert hat.

„Am Anfang herrschte Chaos“, erzählt Emil Bender in perfektem Deutsch. Viele Soldaten wussten gar nicht, wie man Minenfelder kennzeichnet.“ Vor allem ländliche Gegenden sind gespickt mit tödlichen Fallen: Gemessen an seiner Größe und der Anzahl seiner Bewohner ist Bosnien und Herzegowina eines der am stärksten verminten Länder der Welt.

Deshalb gibt es auch heute noch immer wieder neue Minenopfer – und danach Opfer der wirtschaftlichen Lage. Denn Kriegsinvaliden und Minenopfer haben kaum Chancen auf einen Arbeitsplatz. Diskriminierung von behinderten Menschen ist zwar gesetzlich verboten, doch bei einer Arbeitslosenrate von bis zu 60 Prozent in manchen Orten will kaum ein Arbeitgeber das „Risiko“ eingehen, behinderte Menschen einzustellen.

Anders bei Emil Bender: Als Kriegsflüchtling absolvierte er ein dreijähriges Praktikum in einer Potsdamer Orthopädie-Werkstatt. Mit dem Geld aus dem Nachlass einer Berlinerin konnte er sich eine eigene Werkstatt in seiner Heimatstadt Ključ in Westbosnien einrichten. „Er hat schnell gelernt und war unwahrscheinlich engagiert“, erinnert sich sein ehemaliger Potsdamer Kollege Mario Müller-Kotzem. Eine offizielle Abschlussprüfung durfte Bender als geduldeter Kriegsflüchtling trotzdem nicht machen.



Emil Bender in seiner Werkstatt in Ključ / Katrin Lechler, n-ost

Fachleute wie Emil Bender sind heute im ganzen Westbalkan gefragt. „Wir brauchen etwa 300 ausgebildete Orthopädietechniker in der Region“, rechnet Christian Schlierf vom Verein „Human Study“ im bosnischen Tuzla vor. Ausgehend von der WHO-Faustformel, derzufolge ein halbes Prozent der Bevölkerung orthopädische Versorgung braucht, müssten in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens sowie Albanien rund 100.000 bedürftige Menschen leben – auch ohne das Minenproblem. Doch es gibt gerade einmal eine Handvoll Orthopädietechniker für 24 Millionen Menschen.

Das dürfte sich auch in näherer Zukunft nicht ändern, denn bis heute gibt es im ganzen Westbalkan keine Möglichkeit diesen Beruf zu lernen. Durch den Krieg und die politische Krise ist das Gesundheitssystem zusammengebrochen. Die einzige bis dahin bestehende Orthopädieschule in Jugoslawien wurde nicht wieder eröffnet. Christian Schlierf aus Nürnberg will das ändern: Seit sieben Jahren lebt der Orthopädietechniker-Meister in Tuzla. „Müde vom Apparat“, nahm er 2006 kurzerhand die Ausbildung selbst in die Hand.


Das staatliche Zentrum für Minenräumung in Bosnien und Herzegowina (BHMAC) geht von 13.000 Minenfeldern aus – rund drei Prozent des Landes. Die tatsächliche Zahl ist schätzungsweise doppelt so hoch. Im Jahr 2008 wurden 39 Menschen durch Minen verletzt. Die Zahl der Minenopfer ist in den letzten Jahren aber kontinuierlich gesunken. Das BHMAC hält das Ziel, Bosnien und Herzegowina bis 2019 minenfrei zu machen, für realistisch. Kosten: 40 Millionen Euro pro Jahr.


Schlierfs Verein „Human Study“ bietet eine dreijährige berufsbegleitende Ausbildung zum Orthopädietechniker an. Das Abschlusszertifikat entspricht internationalen Standards und wird weltweit anerkannt. Die ersten Absolventen aus vier verschiedenen Balkanländern sind im Dezember fertig. Zur Prüfung wird auch die Deutsche Industrie- und Handelskammer eingeladen, denn zwölf der frisch gebackenen Orthopädietechniker sollen zugleich ihre Ausbilder-Eignungsprüfung ablegen.

Damit können die Absolventen helfen, die nächste Generation von Fachleuten auszubilden – und das auch ohne die sonst übliche Meisterprüfung. Noch fehlen dafür 280.000 Euro, doch Schlierf hofft auf Spenden sowie auf Gelder aus den USA und Deutschland. Die deutsche Regierung habe sich bisher stark an den Kosten der Kampfmittelbeseitigung beteiligt, nicht aber am Opferschutz, so Schlierf.

In der neuen Ausbildungsrunde wünscht er sich mehr Frauen und Kriegsinvaliden. „Es gibt kaum weibliche Fachkräfte, weil sich Frauen häufig nicht so viel zutrauen.“ Für Kriegsinvaliden könnte die Ausbildung eine Chance auf Arbeit bedeuten. „Sie sind oft motivierter als andere“, so Schlierfs Erfahrung. Er hat bereits einen kosovarischen Kriegsverletzten ausgebildet, der jetzt in Priština eine eigene Werkstatt betreibt.

Arbeit wird es für die künftigen Orthopädietechniker genug geben: Dutzenden von nationalen und internationalen Organisationen ist es nicht gelungen, Bosnien und Herzegowina wie geplant bis 2009 minenfrei zu machen. Offiziell fehlt das Geld: Zwei bis vier Euro kostet laut Nichtregierungsorganisation „Handicap International“ die Räumung von einem Quadratmeter Land. Bäume müssen zum Teil gefällt, Pflanzen entfernt werden.

Zudem arbeiten immer zwei Minenräumer gemeinsam, die jede halbe Stunde pausieren müssen – Minen zu beseitigen verlangt höchste Konzentration. Am Rand steht stets ein Team von Notfallärzten bereit – mit gutem Grund: Allein 2008 kamen sechs Minenräumer bei ihrer Arbeit ums Leben. Hinzu kommt, dass weite Teile von Bosnien und Herzegowina bewaldetes Gebirgsland sind – und damit unzugänglich für Maschinen.


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