Revolution in der Warteschleife
Viktorias Zimmer ist eng, das Bett steht halb versteckt hinter dem Bücherregal. Die 28-Jährige wohnt mit ihren Eltern in einer Drei-Zimmer-Wohnung in Minsk. Auf ihrem Computer zeigt sie Fotos von den Protesten im Sommer: Ein junger Mann hält zwei Finger zum Victory-Zeichen in die Kamera, eine Gruppe junger Frauen hat sich untergehakt. Die Bilder wirken sommerlich ausgelassen. Die Internetgruppe „Revolution durch soziale Netzwerke“ hatte Anfang Juni zu ihrer ersten Aktion aufgerufen. Die Teilnehmer trugen keine Plakate, riefen keine politischen Forderungen, sondern klatschten in die Hände oder ließen ihre Mobiltelefone klingeln. „Ich bin gleich beim ersten Mal mit auf die Straße gegangen“, erzählt Viktoria. In ihrer Stimme schwingt die damalige Aufbruchstimmung mit.
Die Proteste sorgten für Aufsehen in Belarus und außerhalb des Landes: Sie waren wie eine Erlösung aus der Schockstarre, in die das Land nach den Präsidentschaftswahlen im Dezember 2010 gefallen war. Damals hatte Präsident Alexander Lukaschenko die Proteste gegen seine manipulierte Wiederwahl brutal niederschlagen lassen. Jetzt hatte sich der Widerstand anders organisiert. „Neu an der Bewegung war, dass die Aktionen online geplant wurden“, sagt die Politologin Anna Schirokanowa von der Staatlichen Belarussischen Universität. In den vergangenen drei Jahren hat sich die Zahl der Internetnutzer in Belarus um ein Drittel erhöht und liegt heute bei den über 15-Jährigen nahe 50 Prozent.
Anfangs kamen nur wenige Dutzend zu den sogenannten Mittwochsprotesten, doch dann wurden es immer mehr. Zum dritten Aktionstag am 22. Juni versammelten sich in Minsk und in 30 weiteren Städten rund 3.000 Menschen. Verabredet hatten sich die jungen Protestler über VKontakte, das russische Pendant zu Facebook. Die Gruppe rund um die Revolutionäre hatte im Sommer fast 30.000 Mitglieder. Die eher kurzen Aktionen waren gut, um „mal Dampf abzulassen“, meint die Politologin Schirokanowa. „Ansonsten gab es für die Menschen keine Möglichkeit, die politische Führung öffentlich zu kritisieren.“
So erleben es auch Viktorias Eltern. Ihr Vater, ein Ingenieur, kritisiert vor allem die Wirtschaftspolitik sowjetischen Stils, allerdings nur in den eigenen vier Wänden. Politisch aktiv war er nie, auch Viktoria bisher nicht. Erst die Wirtschaftskrise und die Vernetzung über das Internet haben sie auf die Straße gehen lassen. Sie arbeitet als Fotografin für ein kleines Unternehmen, verdient rund 160 Euro im Monat. „Seit der Abwertung des Rubels ist neue Kleidung für mich ein Luxus, den ich mir nicht mehr leisten kann.“ Die galoppierende Inflation macht allen zu schaffen, manche reagieren darauf mit Witzen wie diesem: Schlussverkauf auf belarussisch - unsere Preise sind heute 30 Prozent niedriger als morgen!
Ähnlich wie in Tunesien und Ägypten war es auch in Belarus ökonomischer Druck, der die Menschen im Sommer auf die Straße trieb. „Doch die wirtschaftliche Lage der Bevölkerung in Belarus ist um einiges stabiler, als sie es zum Beispiel in Ägypten oder Tunesien war“, analysiert Jörg Forbrig, Belarus-Experte beim German Marshall Fund. „Das Konfliktpotenzial ist nicht vergleichbar.“ So ist zum Beispiel in Belarus die Zahl der Arbeitslosen noch immer verschwindend gering, kein Vergleich zu Ägypten und Tunesien, wo gerade junge Menschen keine Arbeit finden. Für den Politologen ist das eine Erklärung dafür, warum die Proteste in Belarus im Laufe des Sommers weniger wurden. Der Zeitpunkt, dass die Menschen in Massen auf die Straße gehen, ist laut Forbig noch nicht erreicht.
Dennoch haben die Proteste den belarussischen Staatsapparat aufgeschreckt. „Beim ersten und zweiten Mal reagierte die Polizei noch gelassen“, erinnert sich Viktoria. „Sie dachten wohl, das ist eine Aktion von ein paar Jugendlichen, die sich bald verebbt.“ Doch als immer mehr Menschen daran teilnahmen, griff die Polizei hart durch: Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Viasna wurden während der zweimonatigen Proteste im ganzen Land rund 2.000 Menschen verhaftet und etwa 500 wegen Störung der öffentlichen Ordnung angeklagt.
Der Politologe Jörg Forbig sieht daran, dass das Regime noch anpassungsfähig ist: „Der Staatsapparat hat sich sehr schnell und effektiv auf die neue Form der Proteste umgestellt.“ An den Protesttagen blockierte die politische Führung die Internetseiten der sozialen Netzwerke, schickte Spezialeinheiten an die im Netz angekündigten Protestorte und verstärkte die Sicherheitskräfte insgesamt. „Diese und andere Drohgebärden haben die Bevölkerung eingeschüchtert“, so Forbrig. Inzwischen ist es verboten, ohne Genehmigung im Internet zu Versammlungen aufzurufen, auch wenn es sich dabei um eine Verabredung zum ‚Nichtstun‘ handeln sollte.
Im Sommer siegte also die Furcht über den Frust. Als im Juli immer weniger Menschen zu den Mittwochsprotesten kamen, riefen die Administratoren der Internetgruppe eine Pause aus, um Kräfte zu sammeln. Die Pause dauert an. Doch Belarus-Experte Forbrig hält es durchaus für möglich, dass es noch zu einer Mobilisierung der Massen kommt. Das politische System in Belarus basiere auf einem unausgesprochenen Vertrag zwischen Lukaschenko und dem Volk: „Er sichert die Stabilität des Landes im Tausch gegen politisches Schweigen.“ Doch angesichts der wirtschaftlichen Lage stehe dieser Vertrag inzwischen auf wackligen Beinen.
Da die Wirtschaftskrise bei weitem nicht gelöst ist, könnte Lukaschenkos Spielraum in Zukunft immer kleiner werden. Belarus braucht dringend Geld. Der Internationale Währungsfonds hat die Bitte um einen Kredit abgelehnt, allein Russland steht dem Nachbarn zur Seite und hat Abkommen über günstige Gaspreise und den Bau eines Kernkraftwerks abgeschlossen. Doch erst 2012 wird über Lukaschenkos Schicksal entscheiden, erwartet Forbrig, „denn der Finanzbedarf von Belarus ist höher als das, was Russland bisher geboten hat.“
Auch in der sogenannten Protest-Pause verabreden sich viele junge Belarussen übers Internet – beispielsweise zum Frisbee Spielen im Park. Es geht auch darum, den öffentlichen Raum zurückzuerobern. Der Staat hat die Anzahl der Orte, an denen man sich treffen und diskutieren kann, systematisch verknappt. Die Oppositionsparteien werden immer wieder aus ihren Büros gedrängt, einige zivilgesellschaftliche Organisationen müssen im Verborgenen arbeiten und Konzerte regimekritischer Musiker werden kurzfristig abgesagt. Die Frisbee-Spieler halten dagegen. Wenn ihnen etwas nicht gefällt, werden sie nicht schweigen, sagt einer von ihnen, und wenn sie etwas ändern wollen, werden sie das tun und keine Angst davor haben.
Mehr Informationen zum n-ost-Länderheft Belarus finden Sie unter www.n-ost.org/belarusheft