Litauen

Die Abhängigkeit von Moskau bleibt

Die Gespräche sind verhalten, die Abgeordneten bewegen sich zögerlich im Plenarsaal des litauischen Parlaments – damals, am 11. März 1990. Es ist Sonntag. Plötzlich springen sie begeistert von ihren Stühlen, applaudieren im Chor mit hoch erhobenen Armen und rufen Litauen, Litauen. Ihr  frisch gewählter Parlamentspräsident betritt den Sitzungssaal: Vytautas Landsbergis, Leiter der nationalen Bewegung „Sajudis“. Er hat es in den ersten freien Wahlen an die Spitze der Sowjetrepublik Litauen geschafft. Aber genau jetzt, um 18 Uhr, soll diese Sowjetrepublik von ihrem Parlament abgeschafft werden.

„Ich möchte jetzt die Resultate verlesen“, sagt Vytautas Landsbergis. „Jeder von Ihnen hat für oder gegen die Wiederherstellung der Unabhängigkeit des Litauischen Staates gestimmt. Ich werde Sie einzeln aufrufen.“ Dies sei der Höhepunkt in seinem Leben gewesen, erinnert sich Vytautas Landsbergis. Im Oktober 1988 hatte der Musikprofessor die Unabhängigkeitsbewegung „Sajudis“ mitgegründet und als ihr Vorsitzender für Litauens Austritt aus der damaligen Sowjetunion gekämpft.

„Die Mehrheit von uns Litauern wollte einfach ein Ende der 50-jährigen sowjetischen Besatzung sehen, die eine Folge des Hitler-Stalin Paktes war“, erklärt er heute. Die westlichen Siegermächte hätten Litauen, wie Lettland und Estland, nach dem Zweiten Weltkrieg doch einfach unter der Herrschaft Stalins und der ehemaligen Sowjetunion gelassen. Aber die Litauer hörten nicht auf, gegen die Sowjets zu kämpfen. Als Partisanen, als Dissidenten im Untergrund und in der „Sajudis“. „Wir wollten mit politischen und rechtlichen Mitteln unsere Unabhängigkeit zurück.“


Vytautas Landbergis verlas am 11. März 1990 die Unabhängigkeit Litauens. Foto: Birgit Johannsmeier.

Was die Abgeordneten hinter verschlossenen Türen besprechen, verfolgen ihre Anhänger auf der Straße: Tausende scharen sich seit dem frühen Morgen um die Lautsprecher vor dem Parlamentsgebäude. Auch der angehende Historiker Arvydas Anushauskas fiebert mit. Die damalige Sowjetunion habe 1990 in einer tiefen Krise gesteckt, sagt er 20 Jahre später. Die Mängel hätten die Leute unzufrieden gemacht. Bei einer damals durchgeführten Umfrage habe kaum ein Bürger weiterhin in der Sowjetunion bleiben wollen. Das sei sogar für den Kreml und Michail Gorbatschow  eine große Überraschung gewesen, so Anushauskas.

Michail Gorbatschows Politik für mehr Offenheit und Demokratie half Litauen ungewollt in die Unabhängigkeit. „Gorbatschow war ein Symbol für Reformen, aber sie sollten unter der Kontrolle Moskaus bleiben“, sagt Vytautas Landsbergis. „Länder wie Litauen, Lettland und Estland forderten jedoch mehr und mehr und Gorbatschow und sein Reformflügel kamen an ihre Grenzen. Bald verwandelten sie sich ins Gegenteil.“

Vytautas Landsbergis hatte am 11. März 1990 alle sowjetischen Zeichen und Symbole im Parlaments-gebäude mit Tüchern verhängen oder entfernen lassen. Der Oberste Rat musste aber noch fünf Gesetze verabschieden, damit die Abstimmung über einen Austritt aus der Sowjetunion legal sein würde. „Unsere größte Sorge war, ob sich tatsächlich genug Parlamentarier für einen Austritt aus der UdSSR entscheiden würden“, sagt er.

Nacheinander bittet Vytautas Landsbergis am 11. März 1990 alle Abgeordneten, per Handzeichen ihre schriftliche Entscheidung zu bestätigen. Auch Algirdas Brazauskas, bisheriger Staatschef und Vorsitzender der Kommunistischen Partei, hebt die Arme zum Sieg und klopft seinem langjährigen Weggefährten Leonidas Sepetys auf die Schultern.

Seit 1988 haben beide die nationale Bewegung „Sajudis“ unterstützt. Im Dezember 1989 verließen die Litauischen Kommunisten die KPdSU und gründeten die eigene Litauische KP. Algirdas Brazauskas verzichtete auf das staatliche Machtmonopol und rief die erste freie Wahl aus, an der sich auch „Sajudis“ beteiligen durfte. Sie seien immer echte Litauer gewesen, erklärt Leonidas Sepetys. Deshalb waren sie Kommunisten. Nur so habe man wichtige Posten und nationale Ziele erreichen können.

Um 18.10 Uhr ist es soweit: Der Parlamentsvorsitzende Vytautas Landsbergis verliest das Ergebnis der Abstimmung über „die Wiederherstellung der Unabhängigkeit Litauens“. „124 sind dafür, niemand ist dagegen und 6 haben sich enthalten. Das Gesetz ist verabschiedet. Ich gratuliere dem Obersten Rat. Ich gratuliere Litauen.“

Die internationale Gemeinschaft ist gespalten. Gorbatschow ist 1990 im Westen sehr beliebt.  Deutschland will sich mit Gorbatschows Hilfe wiedervereinigen. Deshalb hätten Bundeskanzler Helmut Kohl und der französische Präsident Francois Mitterrand ihm Briefe geschrieben, erzählt Vytautas Landsbergis im Rückblick: Er solle Gorbatschow schonen und die Unabhängigkeitserklärung verschieben. „Litauen sollte Gorbatschow nicht verärgern, um die deutschen Ziele nicht zu gefährden.“ Nur Island erkennt wenige Tage nach dem 11. März 1990 die Republik Litauen an. Und wird umgehend mit einer Fischereiblockade durch den Kreml bestraft.

Die endgültige Unabhängigkeit erlangt Litauen jedoch erst über ein Jahr später. Mit dem Putsch in Moskau im August 1991 zerbricht die ehemalige Sowjetunion, und Litauen wird weltweit als Staat anerkannt. Für die junge Republik beginnt der steinige Weg von der Plan- zur Marktwirtschaft. Privatisierung, Auflösung der Kolchosen – die Menschen stehen unter Schock. Bei der nächsten Wahl 1992 wird Vytautas Landsbergis mit seiner konservativen „Sajudis“ von den Reformkommunisten und Algirdas Brazauskas verdrängt. Unter Präsident Algirdas Brazauskas feiert Litauen 1994 den Abzug der Sowjetarmee. Als Ministerpräsident begleitet er Litauens Beitritt zur Nato und zur Europäischen Union im Jahr 2004.

Ganz unabhängig vom russischen Nachbarn ist die Baltenrepublik trotzdem nicht. Denn für seine EU-Mitgliedschaft zahlt Vilnius einen hohen Preis: die Stilllegung des Kernkraftwerks „Ignalina“. Diesen Reaktor hatte Moskau 1984 in Betrieb genommen. Weil er baugleich dem Unglücksreaktor in Tschernobyl ist, war seine Stilllegung Voraussetzung für Litauens Aufnahme in die EU. Heute bezieht Litauen Energie aus Russland. Die Regierung habe völlig unterschätzt, dass sie über das russische Energieunternehmen „Gazprom“ wieder politisch abhängig von Moskau ist, sagt Vytautas Landsbergis heute.


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