Belarus

„Paranoia“

Alle im folgenden geschilderten Begebenheiten sind rein fiktiv, die Figuren haben zu keiner Zeit in einer Realität jenseits des vorliegenden Textes existiert. Jegliche illegitime Gleichsetzung mit historischen oder lebenden Personen erfüllt einen Straftatbestand und kann nach internationalem und nationalem Recht geahndet werden. Zur Vermeidung ungewollter Straftaten ruft der Autor dazu auf, von der Lektüre dieses Buches Abstand zu nehmen, wohl wissend, dass er es im Grunde besser gar nicht erst zur Niederschrift hätte kommen lassen sollen.

[…]

Ministerium für Staatssicherheit

Protokoll akustische Wohnraumüberwachung
Objekt Mietwohnung
ul. Serafimowitscha, Hs 16, Whg 7
4. Oktober

Unterlt MfS A.M. Geworkjan

Nach Betreten des Objektes um 16.00 Uhr (Tür schlüsselmäßig geöffnet) war Gogol lange in der Küche zugange. Den Geräuschen nach zu urteilen, bereitete er das Abendessen zu. Fuchsie erschien um 19.30 Uhr, sie wechselten zu Mikrofon 3 und aßen. Nach dem Abendessen zogen sie sich ins Schlafzimmer (Mikrofon 1) zurück und machten dort Liebe. Danach führten sie Gespräche persönlich-intimer Natur oder sprachen über nicht operativ relevante Sachverhalte ohne Bezug zur Staats- und Gesellschaftsordnung. Unter anderem ging es um Kindheitserinnerungen. Aufgrund mangelnder Relevanz wurde von einer schriftlichen Dokumentation dieser Äußerungen, deren Inhalt nur für die beiden von Interesse ist, Abstand genommen. Später schliefen die Objekte ein und verbrachten die ganze Nacht schlafend im Objekt. Um 08.35 Uhr erwachte Gogol, hantierte in der Küche herum und verließ nach kurzzeitiger Rückkehr ins Schlafzimmer zu Fuchsie das Objekt, ohne diese zu wecken. Fuchsie verließ das Objekt um 10.30 Uhr.

Protokoll zurück in die Abteilung Akustische Wohnraumüberwachung mit dem Vermerk „nochmalige Audiodekodierung“.

Ministerium für Staatssicherheit

Zweitdekodierung Audioaufzeichnung Objekt
Mietwohnung ul. Serafimowitscha, Hs 16, Whg 7
vom 4. Oktober, erstellt von LtdOpBev J.P. Zupik

Gogol empfing Fuchsie an Mikrofon 2 mit den Worten: „Ich hab Hühnchen in Ananas gemacht.“ Nach dem Essen wechselten die observierten Personen zu Mikrofon 1, wo sie ca. 1 Stunde lang Lautäußerungen tierisch-heftigen Charakters tätigten. Gogol eröffnete anschließend das Gespräch.

Gogol. Erzähl mir von deiner Kindheit.
Fuchsie. Aufgewachsen bin ich in Kobrin, im Schatten eines Riesenrads. Es war das beherrschende Bauwerk, das Riesenrad thronte über Kobrin, wie ein Rathaus über einem historischen europäischen Städtchen, und ich habe immer noch den Eindruck, dass das Leben dort insgeheim von diesem Rad aus gesteuert wurde, das sich in der Abenddämmerung als düsteres Spinnennetz vom Himmel abhob. In Kobrin bin ich zur Mittelschule gegangen, anschließend zum Studium nach Minsk. Dort war es mit meiner Kindheit dann vorbei.
Gogol. Ich wollte doch keine Fragebogenauskunft von dir. Erzähl mir, woran du dich am deutlichsten erinnerst. Welches Bild steht dir vor Augen, wenn du „Kindheit“ hörst?
Fuchsie (nach längerer Pause). Wir lebten in einem Holzhaus, zwei Etagen für fünf Familien, so war in der Nachkriegszeit bei uns gebaut worden. Es lag eingebettet in Heckenrosensträucher, und vor dem Haus war eine kleine Grasfläche mit winzigen Rosen, die Großmutter goss und schnitt. Dort habe ich einmal einen richtigen Igel gesehen. Er lief dort ganz gemütlich wie ein Hund und hatte so gar nichts mit dem Igelbild in der Fibel zu tun, dass mir schon damals der Verdacht kam, die Erwachsenenwelt sei nichts als Lüge.
Gogol. Du meinst, die von Erwachsenen erdachte Kinderwelt ist Lüge.
Fuchsie. Nein. Die Erwachsenen-, nicht die Kinderwelt. Gegen die Kinderwelt habe ich bis heute keinerlei Vorbehalte. Das Haus lag an einem Hang, der zu einem versandeten, von Brennnesseln überwucherten Flusstal abfiel. Irgendwann stand da plötzlich ein alter Bus, aus dem buchstäblich über Nacht alles Verwertbare verschwunden war: Räder, Motor, Kühler. Aber die Fahrerkabine mit Lenkrad und allen möglichen Schaltern war noch da. In die bin ich praktisch eingezogen. Ich weiß noch, dass die Tür sich mit einem Griff öffnen ließ, an den ich geradeso herankam, und mitten auf dem Armaturenbrett war ein riesiger Tacho, so groß wie mein Gesicht, und die Nadel bewegte sich, wenn ich beschleunigte. Ob ich mit dem Bus auch abheben konnte, weiß ich gar nicht mehr … Mitfahren durften nur wenige Auserwählte: der Rentner von nebenan, der immer in seinem braunen Anzug unterwegs war, immer aufrecht und freundlich, so ist er auch gestorben. Papa und Mama, an die ich mich schon damals nicht mehr richtig erinnern konnte. Das Mädchen aus dem Nachbarhaus, das nicht laufen konnte, sie hatte irgendetwas mit den Beinen. Deshalb saß sie immer am Fenster, und ich pflückte Rosen und legte für sie damit Wörter: „Papa“, „Mama“ – zwei paarige Silben, die ich nie hatte.
Auf dem Armaturenbrett waren auch zwei runde, hervorstehende Schaltknöpfe, ein roter und ein grüner. Wenn die Sonne darauf schien, leuchteten sie in Rubin- und Smaragdtönen, wie ich sie später nur noch bei Chagall gefunden habe. Im Winter stürzte dann das Busdach ein, danach war es drinnen feucht und ungemütlich, außerdem hatte jemand das Lenkrad abgeschraubt, einfach so, jetzt lag es in den Brennnesseln wie ein angefahrenes Tier. Ich fuhr zwar noch einige Zeit, es ging aber immer schlechter. Die Fantasie war eingerostet, die Schalter wollten nicht mehr so schön leuchten, und jemand hatte den Tacho eingeschlagen und die Nadel geklaut. Die Erwachsenenwelt mit ihren echten Autos und Flugzeugen war nichts als Lug und Trug … Du bist dran.

Gogol. Mit meiner Kindheit?
Fuchsie. Was fällt dir bei „Kindheit“ als erstes ein?
Gogol. Mal überlegen. Tintenblaue Nacht …
Fuchsie. Tintenblau? Wie sieht das aus?
Gogol. Wie ein Tintenfläschchen gegen das Licht gehalten.
Fuchsie. Ein Tintenfläschchen. Vielleicht eine Flasche Fruchtlikör? Oder eine Druckerpatrone? Die Metapher ist schon ein bisschen angesäuert. Vom Fortschritt überrollt!
Gogol. Okay: dunkelblaue, in etwa der Rahmenfarbe des Internet-Explorer-Logos entsprechende Nacht …
Fuchsie. Ist ja gut. Ich quatsche auch nicht mehr dazwischen.
Gogol. Tintenschwarze Tintennacht, kristallene Sternbilder über mir, und Mama, die riesige, duftige Mama, hält mir ihre heiße, pulsierende Zitze hin, prall von schlafender Milch, aber diese Zitze will erst einmal gefunden sein in dem eisgepanzerten, verharschten Pelz. Du stupst sie mit deiner feuchten Nase an, glühst, frierst und bibberst gleichzeitig vor Ungeduld. Kurz darauf: der Sprung in das Eisloch, das panische Zucken des auf einen Sitz verschlungenen Fisches im Hals, über dir das phosphoreszierende, wie am Computerbildschirm entworfene Nordlicht, und vor allem die Erkenntnis, dass der Fisch im Meer und das flimmernde Licht über dir niemals ausgehen werden, solange das Leben auch sein mag … He, was fällt dir ein!
Fuchsie. Anatoli Newinski: geboren in einer Eisbärenfamilie, Studium der Praktischen Konversation mit jungen Damen an der Hochschule für Runkelrübenkunde, das war ernst gemeint! Ich hab mich hier vor dir nackig gemacht! Splittergranatennackig!

Gogol. Aber ich hab dich nicht aus dem Bett geschmissen.
Fuchsie. Jetzt erzähl schon, Bär. Aber ohne Quatsch! Ganz im Ernst!
Gogol. Ein Sonnenfleck auf den gewaltigen Dielen am Fußboden. Mittagssonne, Mama steht in der Küche, in der Wohnung herrscht eine Stille, dass man die Staubkörner im Sonnenlicht sich reiben hört. Nein, sie reiben sich nicht, sie berühren einander mit einem kaum wahrnehmbaren, glasklaren Ton. Ich liege in dem Sonnenfleck am Fußboden, ganz in ihn eingepasst, hineinkomponiert, aufgehoben in ihm. Mit geschlossenen Augen siehst du die Innenseite deiner Lider – eine leuchtend rote Marsoberfläche mit unförmigen, schillernden Punkten. Bestimmt hatte ich damals mit meinen Soldaten gespielt, aber das war alles weit weg. Nur noch das helle, warme, aber nicht zu warme Licht, das mich auf dem Fußboden umschloss. Heute hat dieses Bild eine fast religiöse Dimension für mich: Die Sonne und ich. Die Sonne hat sich nicht verändert, selbst die Dielen sind immer noch da, aber meine kindliche Offenheit für das Neue, das nicht interpretiert werden muss, ist Vergangenheit. Ich kann nicht mehr in jenem Sonnenfleck liegen, nicht mehr mit jenen Gedanken, jenen Luftschlössern, die sich aus orangefarbenen Wolken auf der Innenseite meiner Lider aufgeschichtet haben.
Fuchsie. Ich will mich mit dir in der Stadt treffen. Aber richtig, ganz real.
Gogol. Wie meinen?
Fuchsie. Wir arrangieren ein klassisches Rendezvous. Gemütlicher Spaziergang zu zweit, Macchiato im Café.
Gogol. Hm. Daran habe ich irgendwie noch gar nicht gedacht. Hast du vergessen, dass wir vielleicht beschattet werden? Weißt du noch, dass du Angst hattest, abgehört zu werden? Die erkennen uns doch sofort, entweder identifizieren sie uns mit ihren Überwachungskameras oder mein Begleitschutz gibt durch, dass ich einen neuen Kontakt habe. Falls sie es nicht längst wissen.
Fuchsie. Dann lass uns überlegen, wie wir sie austricksen. Ich will an deiner Schulter draußen spazieren gehen. Und regnen soll es und kalt sein, aber zusammen kuschlig warm.
Gogol. Ich weiß nicht. Wir können uns sonst was ausdenken, aber die Wahrscheinlichkeit, dass wir unbemerkt durch die Stadt spazieren können, ist minimal. Weißt du noch, wie schnell der rothaarige Schrank im Hawaiihemd an uns dran war? Das wäre Wahnsinn. Aber wir könnten eine Route verabreden und sie zeitversetzt ablaufen. Erst du, dann ich. Und anschließend treffen wir uns hier und reden drüber … Wobei das auch wieder verdächtig wäre. Vielleicht so: du gehst Samstag Abend um Acht, ich Sonntag Abend um Acht. Dann sehen wir genau dasselbe – Fußgänger, Autoscheinwerfer, Laternen, Luft und Wind. Wir sind quasi zusammen unterwegs.
Fuchsie. Ich will aber kein „quasi“. Lass es uns riskieren. Du und ich. Dieselbe Luft, derselbe Wind, dieselben Fußgänger für uns beide.
Gogol. Aber der Außendienst!
Fuchsie. Du hast doch gesagt, das ist bloß Paranoia. Und selbst wenn nicht … Seis drum …

Aus dem Russischen von Thomas Weiler

mit freundlicher Genehmigung von RADAR

größere Auszüge erscheinen im März 2012 in RADAR 3(5) und im „Dossier Belarus“ der Zeitschrift Literatur und Kritik 460/461

weitere Informationen zu Autor und Werk bei literabel.de

Ein Interview mit Victor Martinovich finden Sie hier


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