Rückkehr im Februar
Michal Salomonovic hat begonnen zu erzählen. Als es immer weniger Menschen wurden, die das Schrecken erlebt hatten. Er spricht vor tschechischen Schülern und in diesen Tagen auch vor deutschen Jugendlichen aus Dresden. Möglich wird das durch ein neues deutsch-tschechisches Projekt der Dresdner Brücke/Most-Stiftung mit dem Collegium Bohemicum aus Usti nad Labem, das Gespräche zwischen Zeitzeugen und Jugendlichen vermittelt. Salomonovic kommt aber nicht nur deswegen nach Dresden. Mit der Stadt und ihrer Zerstörung verbindet ihn seine ganz persönliche Geschichte.
Von tausend Menschen haben nur 46 überlebt
Seine Kindheit verlebt Salmonovic als jüdischer Häftling der Nationalsozialisten. Bereits im Oktober 1939, kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, wird sein Vater mit einem der ersten organisierten Transporte von Juden aus dem heimatlichen Ostrava ins polnische Nisko geschafft. Der Versuch, dort ein jüdisches Lager aufzubauen, misslingt. Der Vater darf zurückkehren und die Familie siedelt nach Prag über. Doch dieser Schritt bringt ihnen kein Glück. Als mit der Konzentration der Juden an einzelnen Orten begonnen wird, sind sie wieder die ersten. Am 3. November 1941 bringt sie ein Transport ins Ghetto nach Litzmannstadt (Lodz). „Wir waren 1.000 Menschen, ganze Familien, nur 46 haben den Krieg überlebt“, sagt Salomonovic leise, freundlich und bestimmt.
Die Freundlichkeit in Salomonovics Stimme irritiert. Als ob er seine Zuhörer vor der Grausamkeit, die er erlebt hat, in Schutz nehmen möchte. Und doch sagt er es bestimmt.
Die Arbeit in der Fabrik rettete ihn
In Litzmannstadt entschied sich sein Schicksal. Als seine Familie im Ghetto ankam, war Salomonovic acht Jahre alt, die Grundschule musste er nach einem Jahr abbrechen. Während sein Vater ihm einen Platz in der Metallfabrik besorgen konnte, musste sich sein dreijähriger Bruder verstecken. „Kinder und Alte wurden zuerst aussortiert und in den Tod geschickt“, schildert Salomonovic die brutale Auslese. Die Arbeit in der Fabrik brachte ihm jeden Tag eine Suppe zusätzlich. „Der Hunger war allgegenwärtig, wir lebten immer bis zum nächsten Bissen.“ Für die Suppe mehr musste der Junge zwölf Stunden an sieben Tagen der Woche arbeiten. Während der gesamten Zeit ging ein Transport nach dem anderen Richtung Auschwitz ab. Die Arbeiter im Werk wurden verschont, bis das Ghetto im August 1944 aufgelöst und die restlichen Insassen ebenfalls nach Auschwitz deportiert wurden.
Michal Salomonovic im Bethaus der Jüdischen Gemeinde Ostrava (Ostrau). In dem Buch auf der rechten Seite, links unten, ein Bild seines Vaters, der von den Nationalsozialisten im Konzentrationslager Stutthof ermordet wurde / Steffen Neumann, n-ost
Nach etwa einer Woche Aufenthalt im Todeslager geschah das Wunder. Die Gruppe brach samt mobiler Munitionsfabrik wieder auf. Neues Ziel war das Konzentrationslager Stutthof. Das Wunder hatte eine einfache Erklärung. Die Führung solcher Werke lag in den Händen von hochrangigen Nationalsozialisten, die dafür Sorge trugen, dass sie über genügend „arbeitsfähiges“ Personal verfügten. Dass diese Sorge zynischer Eigennutz war und keine Lebensgarantie bedeutete, musste Salomonovic kurz darauf schmerzlich feststellen. In Stutthof fragten die SS-Aufseher, wer Vitamine braucht. Sein Vater sagte ihm: „Ich melde mich und gebe sie dir.“ Michal sah den Vater zum letzten Mal. „Er hatte den Deutschen immer geglaubt“, beschreibt Salomonovic heute das Verhängnis seines Vaters.
Bombenangriff: Tragödie und Rettung zugleich
Auch in Stutthof blieben sie nicht lange. Die Front rückte näher und bestimmte erneut den weiteren Weg. So landeten sie in Dresden, einer der wenigen deutschen Großstädte, die bis dahin vom Krieg verschont geblieben waren. Dort befand sich ein wichtiges Eisenbahnkreuz. Die Kriegswirtschaft konnte ungestört auf Hochtouren produzieren. Die Arbeitskraft dafür stellten Zwangsarbeiter und jüdische Häftlinge wie Salomonovic, weshalb das Konzentrationslager Flossenbürg immer mehr Außenstellen in und um Dresden ansiedelte. In der Schandauer Straße wurde kurzerhand eine Tabakfabrik für den Munitionsbetrieb umfunktioniert.
Dort im Keller überlebten sie den Bombenangriff im Februar 1945, der für die Familie Tragödie und Rettung zugleich war. Denn die herannahenden Flieger verhinderten, dass die SS Salomonovics Bruder Josef, den sie bei einer Kontrolle entdeckt hatten, umbrachte. „Dieser Angriff war schrecklich. Jedes Mal, wenn ich ein Flugzeug hörte, bekam ich vor Angst Durchfall“, erinnert sich Salomonovic. Nachdem sie noch wochenlang zu Aufräumarbeiten eingesetzt wurden, gelang ihnen auf dem nachfolgenden Marsch nach Bayern in Böhmen die Flucht.
„Diese Stadt hat Nazis satt“
Nach dem Krieg kam Salomonovic immer wieder nach Dresden, das zu seiner Heimatstadt Ostrava eine Partnerschaft pflegt. Aber das Erinnern und Gedenken an den Holocaust und den Krieg ist ihm ein besonderes Anliegen. Deshalb kommt er gerade zum Jahrestag des Luftangriffs, den Rechtsextreme seit Jahren zur Verharmlosung der Geschichte missbrauchen. „Ich werde mich auch in die Menschenkette einreihen, und wenn es sein muss, rufe ich auf Deutsch: ‚Diese Stadt hat Nazis satt!’“, sagt Salomonovic, wieder freundlich und bestimmt.