Ungarn

Peter Nadas zum „Stand der Dinge“ in Ungarn

Bereits im Augenblick der Wende war klar, dass die dritte Republik zwischen Fürsorgestaat und autoritärer Ständeherrschaft, den Traditionswelten der Kadar-Zeit und der Horthy-Zeit pendeln wird. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sie sich für keine von beiden entscheiden können. Nachdem sich die eine liberale Partei an die Spitze der nationalkonservativen Bewegung gestellt, die andere in die Maschinerie der sozialistischen Parteikorruption begeben hatte, war auch keine Partei mehr da, die die mentalen und geistigen Exzesse bremsen oder sich den administrativen Schimären in den Weg stellen hätte können. Als mildernde Kraft wirkten allein die Ermahnungen von außen, gleichzeitig hielten sie aber auch die inneren Irritationen wach.

Die ungarische Gesellschaft brauchte diese Irritationen, um ihre historische und aktuelle Verantwortung auf die äußere Umgebung verlagern zu können. Was natürlich Theater ist. In Wahrheit haben die eigenen Modernisierungsbestrebungen jene beiden abgewirtschafteten Traditionen nicht zugelassen, die berechtigte Angst, die Modernisierung könnte auch im dritten Anlauf nicht gelingen. Offenbar kann die Gesellschaft das nicht einsehen. Sie möchte es verschleiern. Ich denke, sie hat gute Gründe, dass sie es auch morgen noch nicht einsieht.


Prinzip des Fürsorgestaates

Egal welche Partei in der ersten Phase des hinter uns liegenden Modernisierungsversuches an der Regierung war oder in der Koalition, ihre Tätigkeit wurde vom Prinzip des Fürsorgestaates dominiert. Die Dominanz der staatlichen Fürsorge diente im ersten Schritt dazu, unter ihrem Deckmantel die Privatisierung zugunsten Einzelner und parteipolitischer Interessengruppen durchzuführen, das heißt zu Lasten des Gemeinwohls. Ohne Privatisierung wäre es überhaupt nicht möglich gewesen, die Tradition der Modernisierung aufzugreifen. Im Prinzip wäre zwar eine Privatisierung möglich gewesen, die dem Gemeinwohl den Vorrang gibt, ich kann mich aber an keine politische Gruppierung erinnern, die eine solche Möglichkeit offeriert hätte. Die Tradition des kapitalistischen Wirtschaftens war dagegen nicht unbekannt.

Parallel mit den Reformversuchen der sozialistischen Planwirtschaft vergaß die ungarische Gesellschaft seit dem Ende der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts die früheren Anomalien des ungarischen Kapitalismus und fühlte sich zur Marktwirtschaft hingezogen, die sie nicht kannte. Mit ihrer illegal blühenden Schattenwirtschaft kam sie unter den Staaten des Warschauer Paktes der kapitalistischen Wirtschaft am nächsten. Jedoch nicht einer regulierten, sozialen Marktwirtschaft, die die Exzesse des Egoismus durch Gesetze bremst, sondern einer unregulierten, die den Familien- und Stammesegoismus pflegt, das heißt, ihr das Muster autoritärer Gesellschaftsorganisation aufpfropft. Doch auch im zweiten Schritt schien es noch vernünftiger, die auf die Beine kommende Marktwirtschaft in der vertrauten Dekoration staatlicher Fürsorge zu betreiben. Im Schutz dieser Kulissen konnte man das Netzwerk der Schattenwirtschaft nutzen, und die Korruption zugunsten der neuen Interessengruppen institutionalisieren.


Die Spannungen sind nicht sozialer Natur

Jetzt ist die Zeit gekommen, da die autoritäre Tradition dominiert, und das stellt in der Geschichte der ungarischen Modernisierungsversuche in der Tat eine Wende dar. Zum Schutz des auf Kosten des Gemeinwohls angehäuften Privateigentums müssen die entstandenen Spannungen in Zaum gehalten werden. Das war in der Dekoration des Fürsorgestaates nicht länger möglich. Die Ausschreitungen auf den Straßen Budapests im Herbst 2006 haben deutlich gezeigt, dass die Spannungen nicht sozialer Natur sind, sondern dass dahinter der offene Krieg verschiedener Interessengruppen steckt. Ein Krieg, der auch die langfristigen Interessen der Modernisierung bedroht.

Die autoritäre Tradition verfügt über ein starkes klerikales Netzwerk, zeigt kaum Neigung zu Verständigung und Kompromiss, hat einen starken folkloristischen Anspruch und eine schwache Affinität zu den Menschenrechten, doch ihre Dominanz wird sich mit Sicherheit als eine ebensolche Theaterdekoration erweisen wie es die Dekoration des Fürsorgestaates war. Unter der nationalkonservativen Ägide wird der nächste Takt des Modernisierungsversuches vermutlich gebremst sein, aber auf Wachstumskurs bleiben. Es wäre ein Fehler zu vergessen, dass die Umwandlung in die Marktwirtschaft inzwischen tatsächlich abgeschlossen ist. Dem Fürsorgestaat ist nichts mehr wegzunehmen, es gibt nichts mehr zu stehlen und verteilen. Dagegen sind die in den ersten zwanzig Jahren angehäuften strukturellen Probleme zu lösen.

In der ersten Phase ihres dritten Modernisierungsversuches stand die ungarische Gesellschaft vor der unmöglichen Aufgabe, die ursprüngliche Kapitalakkumulation durchzuführen, und sie hat sie durchgeführt, das heißt, das sich auf alles erstreckende Staatseigentum in private Hände zu überführen, sie hat es in private Hände überführt, dieses dann mit zum größten Teil ungesetzlichen Mitteln zu vermehren, und sie hat es mit größtenteils ungesetzlichen Mitteln vermehrt, und dabei nicht nur den gesellschaftlichen Frieden zu bewahren, sie hat ihn bewahrt, sondern unter den Bedingungen der Globalisierung wettbewerbsfähig zu werden, das heißt gegenüber dem übermächtigen internationalen Kapital nicht zu unterliegen.


Die Kulissen des Fürsorgestaates haben unter den Sozialisten ausgedient

Die Erfüllung der letzteren Forderung steht noch aus, und sie ist, geben wir es zu, kaum erfüllbar. Dabei darf man nicht vergessen, dass unter der linksliberalen Ägide die Zahl der Arbeitslosen auf zehn Prozent gestiegen und ein Drittel der Bevölkerung verarmt ist, dass die ungedeckte Verschuldung der Bürger und die staatliche Schuldenlast in ungeahnte Höhen gewachsen sind und sogar die kommunale Infrastruktur, die heute und morgen dem Gemeinwohl zu dienen hätte, durch korrupte Netzwerke ausgehöhlt worden ist. Die Kulissen des Fürsorgestaates haben unter der Regierung der Sozialisten und Freien Demokraten ausgedient. Was in Rohübersetzung eben heißt, dass sich aus der Tradition staatlicher Fürsorge zu Nutzen einiger auserwählter ungarischer Großkapitalisten und kapitalistischer Gruppierungen verschiedener Parteicouleur nichts mehr herausholen lässt.

Es besteht trotz all dieser Schwierigkeiten und Gefahren Hoffnung auf einen erfolgreichen Abschluss des Modernisierungsprozesses. In der Logik der historischen Entwicklung der ungarischen Gesellschaft hat die Modernisierung seit zweihundert Jahren Priorität. Für eine stetig vorangetriebene Modernisierung ist die Demokratie in den Händen eines starken Bürgertums das wirksamste Instrument. Die Marktwirtschaft verträgt jedoch nicht nur eine autoritäre Herrschaft, sondern sogar eine Diktatur. Das ist nicht schön von ihr, doch es ist so. Nur unverbesserliche Anhänger des freien Handels glauben im Ernst, dass aus der Marktwirtschaft irgendwann einmal hübsch die Demokratie erwächst.

In Ungarn gibt es heute zwar viele Reiche und noch mehr Wohlhabende, aber damit besitzt das Land noch keine Bourgeoisie. Sie hat sich nicht organisiert. Sie organisiert sich jetzt. Obwohl dieser Prozess ebenfalls durch spektakuläre Dekoration verdeckt wird. Hinter den Kulissen haben die Reichen und Wohlhabenden gerade während der Ausschreitungen und Straßenschlachten im Herbst 2006 entschieden, den Sozialisten, die sich soeben an die Verteilung der EU-Gelder machten, ihr Vertrauen zu entziehen und es den Nationalkonservativen zu schenken, die nun die Disproportion der Verteilung zugunsten anderer Interessengruppen korrigieren und nach ihrem Gutdünken die folkloristischen Ansprüche des verarmten Drittels der Bevölkerung befriedigen werden. Die Rechnung ist nicht ohne Risiko, denn damit haben sich diese Interessengruppen auf die Seite der Destabilisation gestellt, was Eigentümer prinzipiell nicht tun, aber sie haben auf lange Sicht ganz sicher Erfolgschancen für die Modernisierung gesehen, die sowieso nicht aufzuhalten ist. Auch dann nicht, wenn wir heute wissen, daß die auf regionaler Ebene betriebene Modernisierung mit der systematischen Vernichtung der Natur auf globaler Ebene ihren heroischen Abschluß erlebt, und das selbst in einem lupenrein demokratischen Rahmen.


Seht an, der Ministerpräsident präferiert Vaterland und Fortschritt zugleich

Hier, wo wir leben, hat der erste große Versuch der Modernisierung, nämlich der des Vormärz, den Anspruch, die ungarische Industrie und den ungarischen Handel aufzubauen, unlöslich an die politische Idee der Unabhängigkeit geknüpft. Die Begriffe Vaterland und Fortschritt sind so eng aneinander gekoppelt, dass es niemanden gibt, der einen Fuß dazwischen setzen könnte. Unabhängigkeit bedeutet nicht Unabhängigkeit des Einzelnen, nicht Gleichheit vor dem Gesetz, nicht persönliches Freiheitsrecht, sondern Unabhängigkeit des Vaterlandes. Nur das unabhängige Vaterland ist zum Fortschritt fähig. Für das unabhängige Vaterland opfert man sogar sein Leben. Wenn ein ungarischer Regierungsbeamter heute erklärt, der amtierende ungarische Ministerpräsident führe einen Freiheitskampf gegen seine Gläubiger, weil er die finanzielle Unabhängigkeit des Landes wiederherstellen möchte, dann gründet er seinen Satz auf dieses historische Bewusstsein. Seht an, der ungarische Ministerpräsident präferiert Vaterland und Fortschritt zugleich.

In meiner Rohübersetzung heißt das, dass er für das neue ungarische Kapital einen wettbewerbsfähigen Platz auf dem Weltmarkt schaffen will, ihm dafür aber in der EU um jeden Preis einen Spielraum erkämpfen muss. Ob man es nun weiß oder nicht zur Kenntnis nehmen will, die Union basiert auf dem Fundament eines unreflektierten kolonialen Denkens. Auch ich hätte noch als Kind oder Jugendlicher mein Leben gern fürs Vaterland geopfert. Ich verschlang spätromantische Romane und lauerte auf eine Gelegenheit zur großen Selbstaufopferung. Aber auch im Alter, als Realist, vermag ich nicht über das Problem der Gleichrangigkeit innerhalb der EU hinwegzusehen. In ihr treffen zweierlei Erfahrungswelten aufeinander, beide sind Teil der europäischen Geschichte, sie können sich gegenseitig nicht verleugnen. Die Rede ist von der wechselseitigen Beziehung zwischen dem größeren und dem stärkeren Teil Europas.


Ein Refrain wiederkehrender hysterischer Übertreibungen

Der Modernisierungsversuch des ungarischen Vormärz hat den Status des Einzelnen im Vaterland, den Status des Vaterlandsbegriffs in der Republik und den Status der Republik in der Welt nicht geklärt. Das ist richtig. Aber es war auch nicht notwenig. Dieser Versuch war die geistige Bewegung des aufgeklärten Besitzadels. Sie waren die Nation. Aristokraten pflegen bis heute eine andere Beziehung zu ihrem werten Selbst als Bürger, auch wenn beides gleichermaßen angeeignete Verhaltensweisen sind.

Der zweite Modernisierungsversuch gründete sich auf die gesetzliche Anerkennung der Abhängigkeit. Die Modernisierungsvorstellungen von Adel und Großbürgertum trafen jetzt zusammen, was der Modernisierungsgeschichte Ungarns schon deshalb einen großen Schub verlieh, weil sich in den folgenden Jahrzehnten der Realismus des politischen Denkens einbürgerte. Die Sezessionsbestrebungen der verschiedenen Nationalitäten im Rücken, die Glut des ständig schwelenden Unabhängigkeitsverlangens unter den Sohlen wurde mit juristischen Instrumenten ein liberalkonservativer Staat geschaffen. Die infrastrukturelle Entwicklung Budapests lag zur Jahrhundertwende auf dem Niveau Berlins, das heißt, aus Budapest war eine menschenfressende Weltstadt geworden. Entwicklungstakt und Machtpotenzial der Hauptstadt verbesserten jedoch nicht die Urbanisierungschancen für die chronisch zurückgebliebenen ungarischen Provinzstädte. An der Bürde dieser ungleichen Entwicklung, der Missgunst gegeneinander tragen wir bis heute. Dem zweiten Versuch zur Modernisierung aber setzte gar nicht einmal der erste Weltkrieg ein Ende, sondern viel eher der Zusammenbruch der Monarchie.

Wie immer wir es nennen, das Scheitern, das Fiasko, die Sackgasse oder Unabgeschlossenheit dieser beiden früheren Modernisierungsversuche hat sich tief ins Bewusstsein der Menschen ungarischer Sprache eingeschrieben, was allerdings die in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangene Dramatik, die wie ein Refrain wiederkehrenden hysterischen Übertreibungen, das obligatorische Genörgel, die ständige, in allen Parteien gepflegte Empörung, den Mangel an Argumentationsfähigkeit und Definitionspflicht noch keineswegs entschuldigt, höchstens erklärt. Nicht dass sich in dem Land in den vergangenen zwanzig Jahren nichts bewegt hätte. Oder noch bescheidener gesagt, nicht dass der planwirtschaftliche Betrieb nicht erfolgreich in einen marktwirtschaftlichen umgewandelt worden wäre. Viele Menschen mussten sich zur gleichen Zeit zusammen am eignen Schopf aus der mentalen und organisatorischen Altersschwäche der real existierenden sozialistischen Systeme ziehen. Und sie haben sich herausgezogen. Der Erfolg setzt sich aus vielen kleinen individuellen Leistungen zusammen. Im Laufe dieser zwanzig Jahre ist sogar die berüchtigt hohe Zahl der Selbstmorde rapide gesunken. Obgleich nach zwanzig Jahren klar ist, daß die vielen kleinen isolierten Leistungen von Einzelnen den dauerhaften Erfolg der neueren ungarischen Marktwirtschaft nicht mehr garantieren können. Auf lange Sicht könnte das einzig und allein der Abschluß des Modernisierungsprozesses leisten, der aber nicht das Werk von Einzelleistungen sein kann.


Der Kapitalismus baut auf der Schattenwirtschaft des Sozialismus auf

Die ungarische Gesellschaft behauptet heute von sich, in ihrer politischen Auffassung extrem gespalten zu sein. Diese Behauptung ist aber nicht nur falsch, sie ist absichtlich falsch. Mentalität und politische Anschauungen der einander gegenüberstehenden Parteien unterscheiden sich höchstens im Verhältnis ihrer Ingredienzien. Zwar spielen sie die Rolle der gegenseitigen Kontrolle, wie in einer reifen Demokratie, die konkreten Daten und Ergebnisse ihrer Kontrollarbeit aber binden sie den Staatsbürgern nicht auf die Nase. Selbst ihren eignen Wählern nicht. Diese unterscheiden sich auch in ihrer Vermögenssituation nicht, wenn sie sich auch minimal in ihrem Verhältnis zum Vermögen unterscheiden. Schon allein dadurch, auf welche Weise sie im Prozess der Privatisierung oder im Netzwerk der Korruption zu ihm gekommen sind. Der nagelneue ungarische Kapitalismus mitsamt den multinationalen Konzernen hat auf den lebendigen Strukturen der Schattenwirtschaft des real funktionierenden Sozialismus aufgebaut. Zum neuralgischen Punkt der Gesellschaftsentwicklung wurde damit, daß das geheime Netzwerk der Schattenwirtschaft nur von denjenigen durchschaut und zu ihren eigenen Gunsten genutzt werden konnte, die bereits zur Zeit des Einparteienstaates seine Betreiber und Nutznießer waren. Es ist keineswegs Zufall, daß die reichsten und einflußreichsten Bürger Ungarns aus den Reihen der Nomenklatura des Einparteienstaates stammen. 


Diskrepanz zwischen staatlicher Verschwendung und individueller Entbehrung

Ungarn unterscheidet sich in der Tat von allen anderen postkommunistischen Ländern, eine Schattenwirtschaft dieses Ausmaßes hat es sonst nirgends gegeben. Die Polen glänzten im schattenwirtschaftlichen Handel, nicht aber in der schattenwirtschaftlichen Produktion. Was einst als Vorteil für die Chancen der ungarischen Modernisierung galt, hat sich heute in einen Nachteil verwandelt. Nach zwanzig Jahren hat die Zeit des Übergangs und der Geduld wegen der Inkompatibilität mit der Umgebung und der inneren Spannungen ein Ende. Die enorme Diskrepanz zwischen kommunaler und privater Qualität ist langfristig nicht aufrechtzuerhalten. Ebenso groß ist die Diskrepanz zwischen staatlicher Verschwendung und individueller Entbehrung.

Die Eigentümer der Schattenwirtschaft müssten ihre Schattenwirtschaft legalisieren. Sie müssten investieren, Risiko und Verantwortung übernehmen. Sie müssten zwischen ihren Imperien Straßen bauen, Krankenhäuser, Kanäle, die Fach- und Sprachausbildung organisieren, ein ausgewogenes Preis-Leistungs-Verhältnis schaffen, den Staatsapparat neu zuschneiden, das Gesundheitswesen wiederaufbauen, täglich die schmutzigen Züge, dreckigen Straßenbahnen und Busse, Bahnhöfe, Straßen und Plätze putzen lassen, die Institutionen der Korruption abbauen, ihre in der NATO und der EU übernommenen Verpflichtungen erfüllen, mit einem Wort, all das tun, was das Gemeinwohl gebietet. Sicher gibt es Menschen, die dazu bereit sind, sie sind jedoch kaum zu sehen. Zu sehen ist vielmehr, daß die Unternehmerkreise unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit eine Wirtschaft wollen, die nicht auf dem freien Wettbewerb aufbaut. Sie geben das Privileg nicht auf, den Staat dauerhaft und systematisch auszurauben. Gäben sie es auf, müssten sie der Phase der ursprünglichen Kapitalakkumulation ein Ende setzen.

Aus purem guten Willen können sie ihre eingefahrenen Positionen schon allein deshalb nicht aufgeben, weil sie das Bewusstsein von illegalen Unternehmern haben, für die das Risiko durch staatliche, über das Korruptionsnetz gesicherte Aufträge getilgt ist. Ihre stumme Argumentation ist gleichwohl verständlich. Dem geordneten Kapitalismus, das heißt dem großen globalen Kapitalstrom gegenüber, haben sie, selbst wenn sie den Staat ausrauben, keine Chance. Mit ihren Geschäftserfahrungen ist außerhalb der Staatsgrenzen nichts anzufangen. Ihr auf Kosten des Staates und der Ärmsten illegal angehäuftes Kapital ist größtenteils totes Kapital. Es ist offensichtlich, daß sie nicht eine Demokratie wollen, die eine freie Vereinigung freier Individuen wäre. Gibt es aber nur eine solche Demokratie, dann wollen sie gar keine.


Arbeitslosenzahlen sind statistische Dekoration

In der Auffassung über ihre Strategie folgen die Parteien zwar dem unterschiedlichen Verhältnis, das sie zum Vermögen hegen, ja, verbergen dementsprechend sogar die Karten voreinander, gebrauchen ihr Geheimwissen aber nicht zugunsten des Gemeinwohls, sondern dazu, sich gegenseitig zu erpressen. Was nicht zur demokratischen Transparenz des staatlichen Lebens beiträgt. Stillschweigend stimmen sie sogar darin überein, wie weit sie bei der gegenseitigen Enthüllung und Erpressung gehen. Es kann keine Rede davon sein, dass sie damit ihre Wähler täuschen würden, im Gegenteil, ihre Wähler wollen genau solche Parteien. Auch sie selbst wollen nicht offenlegen, wer wann und wie zu seinem Vermögen gekommen ist, in welchem illegalen Netzwerk er es arbeiten läßt, auf welche Weise er das Finanzamt betrügt, wie er die Sozialbeiträge unterschlägt und wohin er seine Gewinne transferiert. 

Seit zwanzig Jahren wollen die Wähler auch nicht wissen, wer beim einstigen Geheimdienst gearbeitet und welche Informationen man dort angehäuft hat und was mit diesen jetzt geschieht. Ist das denn nicht egal? Im Endergebnis dieser vielseitigen moralischen Großzügigkeit werden heute zwei Drittel der Bürger Ungarns von den Steuern eines Drittels ausgehalten. Was natürlich nicht funktioniert. Eine Million Staatsbürger weniger als notwendig sind erwerbstätig. Was natürlich statistische Dekoration ist, denn diese Staatsbürger arbeiten täglich zwölf oder vierzehn Stunden, nur eben nicht angemeldet. Hinzu kommen die circa achthunderttausend Invaliditätsrentner, doch viel höher noch als diese absurde Zahl ist die Zahl derer, die mit dem Schwerbeschädigtenausweis kostenlos ihre Luxusautos parken. Es kann keine Rede davon sein, dass die Parteien diese [Tatsachen/Fakten] nicht kennten. Sie sind, gewissermaßen im Interesse der friedlichen Aufrechterhaltung des geheimen Treibens ihrer Wähler, nicht bereit, die Ergebnisse ihrer Kontrollfunktion offenzulegen. Die Gesellschaft verheimlicht damit ihre tatsächlichen Bewegungen in einem Ausmaß, bei dem das System der Täuschungen ebenso geheim ist, wie es die Ergebnisse sind.


Dem dritten Versuch der Modernisierung ist der Erfolg versagt geblieben

Holte auch nur irgendeiner die Daten aus der Schublade oder seinem werten Gedächtnis, würde sich der Ton der Lamenti und gegenseitigen, bloß der Verschleierung dienenden Anschuldigungen ändern. Warum sollte er das wollen? Er hat ein geheimes Leben, er hat ein öffentliches Leben, zwischen beiden gibt es keine Verbindung. In den vergangenen zwanzig Jahren hat sich ein respektables Privateigentum herausgebildet, sind tatsächliche Industrie-, Handels, Landwirtschafts-, Finanz- und Kirchenimperien entstanden. Sie lebten eine ganze Weile, ganz genau bis zur globalen Finanzkrise, in einer organischen und ungestörten Beziehung zur Weltwirtschaft. In sehr viel bescheideneren Formen zwar, doch massiv und gründlich hat die Bereicherung ihre Spuren in den Städten und, in noch bescheideneren Formen, in den Dörfern hinterlassen. In den Budapester Bezirken auf der hügeligen Budaer Seite und den Siedlungen im Speckgürtel der Hauptstadt sind in den vergangenen zwanzig Jahren, soweit das Auge reicht, hinter Steinmauern verschanzte Villen mit gepflegten Gärten entstanden, Herrenhäuser, Schlösser, bewachte Wohnparks, mit den dazugehörigen Teichen oder Schwimmbädern, gebührenden Heiz- und Stromrechnungen, Sicherheitspersonal oder gar kleinen Privatarmeen, mit, quasi als Kundenservice, Tennisplätzen, Reitschulen, Kliniken, Privatschulen, Restaurants und Einkaufszentren.

Sei die Rechnung im einzelnen auch noch so egoistisch, all das müssen wir zum wirtschaftlichen Wachstum des Landes und einem bedeutenden Anstieg des nationalen Vermögens zählen. Auch dann, wenn wir landauf, landab niemanden finden, der zufrieden wäre und nicht noch höher hinaus wollte.

Dem dritten großen Versuch der Modernisierung ist der Erfolg versagt geblieben. Zumindest aber scheiterte er in der ersten Phase, die jetzt hinter uns liegt. Zwar wird keine neue Epoche folgen, wie viele fürchten oder hoffen, sicher aber ein anderes, vom vorhergehenden wesentlich abweichendes Kapitel.

Aus dem Ungarischen von Heike Flemming


Weitere Artikel