Schuhe mit Gesichtern
Die Konservatoren im Museum des ehemaligen Kzs Auschwitz werden täglich mit den Gräueltaten der Nazis konfrontiert
(n-ost) – „Der Stiefel ist ein absoluter Hammer – echte Schlangenhaut! Toll!“ Nel Jastrzebiowska ist begeistert, ihre Augen glänzen. „Für eine elegante Frau“, urteilt sie. „Und dieser Kinderschuh, so klein!“ Die Schuhe faszinieren Nel. „Jeder von ihnen ist einzigartig“, beurteilt sie professionell. Ihre Gestalt, die Stoffe, die Farben. Doch nicht allein deshalb sind sie so besonders. Sie haben ein Gesicht. Gesichter von Menschen, die spurlos verschwunden sind. Weggewischt, als ob es sie niemals gegeben hätte. 80.000 Paar Schuhe, 80.000 Gesichter aus Auschwitz. Nel Jastrzebiowska ist Konservatorin in Auschwitz, wo einst das größte aller nationalsozialistischen Vernichtungslager stand.
Sie hält einen braunen Schuh in der Hand. Mit einem kleinen Pinsel entfernt sie den Staub vom Leder. Zuerst oberflächlich, mit einem Pinsel, danach genauer mit einem speziellen, biologischen Staubsauger. Dann wird der Stoff vorsichtig mit nassen Wattetupfern gewaschen. In der letzten Phase wird das angefeuchtete Leder mit einer Art Paste aus Benzin, Lanolin und Klauenöl eingefettet. „Das Leder absorbiert Fett besser, wenn es feucht ist“, erklärt Nel ihre Arbeit. „Es ist nicht einfach, mit solchen Gegenständen zu arbeiten“, sagt sie. „Aber es ist unser Job, wir müssen damit zurechtkommen. Wer seine Emotionen nicht unterdrücken kann, wird bald verrückt.“
Für viele Besucher ist der Aufenthalt im ehemaligen KZ Auschwitz eine Ausnahmesituation, für Konservatorin Nel Jastrzebiowska Alltag. Foto: Agnieska Hreczuk.
Über 80.000 Paar Schuhe, 3.800 Koffer, 12.000 Kochtöpfe, 460 Prothesen, 570 Lageranzüge, 260 Kinder-, Damen- und Herrenkleidungsstücke, zwei Tonnen Haare, zahlreiche Brillen. All das wurde nach der Befreiung des Lagers vor genau 65 Jahren gefunden – in einem Lagerhaus. „Hinter jedem Gegenstand versteckt sich ein Mensch“, sagt Nel Jastrzebiowska. „Und wir geben ihm wieder ein Gesicht.“ Basierend auf dem Material oder der Form des Gegenstandes können die Konservatoren feststellen, woher die Besitzer kamen, ob sie krank oder gesund waren, reich oder arm. „Wohlhabende konnten sich Lederkoffer leisten“, erklärt Nel. „Anderen dagegen mussten Stoff- oder sogar ein Pappkoffer reichen. Die schick bestickte Bluse gab es nur in Ungarn und die schief abgetragenen Absätze des Schuhs zeigen, dass der Mann Plattfüße hatte.“
In ihren Schuhen versteckten Menschen oft ihre wertvollsten Sachen. „Wir haben in den Schuhen viele Geldscheine aus ganz Europa, Namen, Fragmente von Briefen, sogar eine Klassenarbeit gefunden. Und hier ist eine Postkarte, aus dem ungarischem Dorf Nagyvárad. Wir wussten überhaupt nicht, dass ein Transport aus diesem Ort nach Auschwitz kam.“ Die Menschen sind offenbar direkt in die Gaskammer geschickt worden und wurden deshalb nicht auf der Gefangenenliste eingetragen. „In Ungarn wusste wiederum niemand, wohin die Leute kamen. Jetzt könnte die Geschichte dieser Menschen zu Ende geschrieben werden“, erzählt Nel. Deshalb macht ihre Arbeit sie stolz. „Es ist so, als ob wir den Menschen ein neues Leben geschenkt haben. Das Leben in unseren Erinnerungen.“
Die Gegenstände sind mit Menschen verbunden. „Einige enger, andere lockerer“, erzählt Nel. Das spürt ein Konservator nirgendwo sonst besser als gerade dort, in Auschwitz. Je enger das Verhältnis zwischen dem Menschen und dem Gegenstand war, desto schwieriger ist es, emotionalen Abstand zu wahren. Mit so einem Koffer, zum Beispiel, ist die Arbeit eher unproblematisch. Der wird ja nur kurz in der Hand gehalten. Auf einem Koffer findet man meistens keine persönlichen Merkmale, keine Spur vom Besitzer. Sie riechen einfach modrig. Der Job der Konservatoren ist es, den Gegenständen ihr vorheriges Aussehen wiederzugeben. Und das war‘s.
In diesen Dosen wurde früher das Gift Zyklon B aufbewahrt. Nicht nur die Dose, auch und vor allem das Etikett müssen sorgfältig konserviert werden. Foto: Agnieszka Hreczuk.
Mit zwei Ausnahmen: die Rasierapparate, mit denen die Köpfe der Häftlinge kahlrasiert wurden, und die Blechdosen, früher mit Zyklon B gefüllt, dem Gift, mit dem Leute in Auschwitz umgebracht wurden. Die Dosen sind ein Alptraum für Konservatoren, weil man den Rost erst dann bekämpfen kann, wenn das Etikett weg ist. Das Etikett, mit einem Totenkopf darauf, ist jedoch historisch so wertvoll, dass es nicht abgenommen werden darf. Die Apparate und Dosen mit Etikett sind definitiv unpersönlich, aber dafür war ihre Bestimmung so unmenschlich, dass ihre Präsenz bedrückt.
Auch die Haare wirken bedrückend. Zwei Tonnen von ihnen liegen im Lager. Den Geruch im Raum mit den Haaren könne man nicht vergessen, sagt Nel. So schwer und stickig, dass einige Besucher in Ohnmacht fallen. Die Haare sind die einzigen Exponate, die nicht mehr konserviert werden – wegen der Menschenwürde. Denn wenn man es sich genau überlegt, sind Haare Körperteile der nach Auschwitz verschleppten Menschen.
Aber nicht nur Haare, sondern auch Schuhe, Brillen oder Kleidung erzählen persönliche Geschichten der Besitzer. So ist auf einer Brille in der Ausstellung deutlich ein Blutfleck zu erkennen. „Wir dürfen die Sachen nur konservieren, aber nicht verändern“, erklärt Nel. „Sie sollen möglichst in demselben Zustand wie damals sein, als sie ihren Besitzern weggenommen wurden.“ Deshalb bleiben auch die Schlammflecken auf einem Koffer, der wohl auf den matschigen Boden bei der Rampe geworfen wurde, deshalb bleiben die Blutflecken auf Brillen und Kleidung.
Der Besitzer dieser Brille blutete also, kurz bevor er seine Brille verlor. Ist er ausgerutscht und hat er sich dabei verletzt oder wurde er beim Aussteigen aus dem Zug von den SS-Leuten zusammengeschlagen? Und der zerrissene kleine Pulli – ist er kaputtgegangen, als das Kind mit Gewalt den Händen der Mutter entrissen wurde? Hat es geweint? Der kleine Lederschuh, nur zehn Zentimeter lang – die Eltern haben wohl das Kind wahnsinnig geliebt, wenn sie ihm solch teure und schicke Schuhe geschenkt haben, obwohl es wohl noch nicht laufen konnte. Haben sie das Kind auch im Sterben begleitet? Haben sie versucht es zu beruhigen? Man spürt beinahe ihre Angst und Schmerzen.
Die Konservatorin Jastrzebiowska bearbeitet einen Kinderschuh aus echtem Leder – wahrscheinlich hat er einem Kind sehr wohlhabender Eltern gehört. Foto: Agnieszka Hreczuk.
Ein Konservator in Auschwitz darf nicht zu viel nachdenken. Nel versucht sich ausschließlich auf die technische Seite ihres Jobs zu konzentrieren. „Das Herz muss man ausschalten“, sagt sie. „Ich bin hier, um ein Kleid oder einen Schuh zu konservieren. Wenn ich zu viel darüber nachdenke, kann ich meinen Job nicht ausführen.“
Während das Ausmaß der Sammlung die Besucher oft zutiefst schockiert, stellt es für die Konservatoren eine große Herausforderung dar. In einem üblichen Museum konserviert man ein einziges Buch und hat dafür mehrere Monate Zeit. „Wir müssen in einem ähnlichen Zeitraum Tausende Seiten von Dokumenten konservieren. Nicht ein Kleid, sondern Tausende. Niemand hat bisher eine überprüfte Methode für das massenhafte Konservieren erfunden“, sagt Nel. Auch die modernen Stoffe sind ein Problem. Für diese eignen sich die klassischen Methoden überhaupt nicht. Auch nicht für die Zahnbürsten der Opfer, die aus Kunststoff sind und zerfallen.
Die Konservatoren müssen allein aus ihren Fehlern lernen. „Eigentlich“, in Nels Stimme ist wieder Begeisterung zu hören, „ist dies das Spannendste an meiner Arbeit“. Forschen, suchen, ausprobieren. Oft dauert das Forschen deutlich länger als das Konservieren selbst. Letztlich sind sie stolz, wenn die Methode tatsächlich funktioniert. Einen Misserfolg haben Nel und ihre Kollegen noch nie einstecken müssen. Die Konservatoren aus dem Museum Auschwitz sind gut in ihrem Fach. Sie haben weltweit kaum Konkurrenz. Einmal meldete sich eine Konservatorin aus Ruanda. Sie wollte wissen, wie man Dokumente und Gegenstände pflegt, die aus Massengräbern herausgeholt werden. Niemand sonst könnte ihr darüber Auskunft geben.
„So jung und so erfahren“, wundern sich manchmal die ausländischen Kollegen. Zurzeit arbeiten elf Menschen in der Konservierungsabteilung. Die meisten von ihnen sind ausgebildete Konservatoren, aber es gibt auch eine Chemikerin, einen Archäologen und sogar eine Soziologin. Sie sind alle unter 35 Jahre alt und kamen direkt nach dem Studium, im Jahr 2003, als die Abteilung gegründet wurde. Vorher gab es nur Konservatoren, die sich mit den Gebäuden beschäftigten.
Die meisten Mitarbeiter wie Nel kommen nicht aus der Gegend und sind per Zufall in dem Museum gelandet. Nel hat lange überlegt, ob es der richtige Ort für sie ist. „Meine Mutter war schockiert. Sie meinte, ich werde das mit meiner Gesundheit bezahlen“, erzählt Nel. Oft werden die Konservatoren gefragt, wie man an einem solchen schrecklichen Ort arbeiten kann. „Eine Journalistin, die einmal im Museum einen Film gedreht hat, war schockiert, dass wir hier auch in der Frühstückpause essen! Das passte ihr überhaupt nicht.“
Nel findet so eine Einstellung unfair. Denn mit ihrer Arbeit zeigen sie und ihre Kollegen täglich ihr Mitleid und ihren Respekt gegenüber den Opfern. Vielleicht sogar mehr, als viele Besucher selbst, denn sie können die grausamen Taten täglich ganz persönlich und buchstäblich auf der eigenen Haut spüren. Wie bei jeder anderen Arbeit isst man eben auch ein Käsebrot in der Pause oder verabredet sich mit den Arbeitskollegen zum gemeinsamen Kegelabend. Im Leben außerhalb von Auschwitz.
Agnieszka Hreczuk
ENDE
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