Wieviel Geld ist ein Kindesentzug wert?
Am Mittwoch beginnt der Berufungsprozess um die vertauschten Kinder aus Südböhmen
(n-ost) – „Geburtstag! Ich habe Geburtstag!”, jubelte Veronika Brozova, als sie an einem Novembermorgen des vergangenen Jahres aufwachte. Und kaum hatte sie von Mama und Papa einen Kuss bekommen, kam auch schon die Frage, die für Veronika an diesem Tag die wichtigste war: „Wann kommt Nikola?” Nikola Cermakova ist ihre beste Freundin und hatte an diesem Tag auch ihren dritten Geburtstag. Nachmittags feierten sie dann zusammen, Veronika, Nikola und die beiden Elternpaare. Die Kinder freuten sich über die gemeinsam von den Müttern gekauften Geschenke und pusteten erfolgreich die jeweils drei Kerzen auf den beiden Geburtstagstorten aus.
Den Eltern war an jenem Tag nicht nur zum Feiern zumute. Er erinnerte sie vielmehr an den Beginn eines Albtraums, den sie bis heute nicht bewältigt haben. Am selben Tag vor drei Jahren wurden den beiden Müttern in der Geburtsstation des Krankenhauses im südböhmischen Trebic die Säuglinge zum ersten Mal an die Brust gelegt. Anschließend wurden die Kleinen von den Schwestern gebadet. Dabei passierte etwas, was das Leben der beiden Eltenpaare gehörig durcheinander bringen sollte: Die Bändchen mit den Namen der Kinder wurden vor dem Baden abgenommen – und anschließend vertauscht. Veronika war auf einmal Nikola und Nikola wurde zu Veronika.
Zwar bemerkten die Eltern am Tag darauf gewisse Unterschiede. Aber die Schwestern wiegelten ab: „Was denken Sie denn? Wir vertauschen doch hier keine Kinder.“ Die Mütter, beides unerfahrene Erstgebärende, entschuldigten sich, und der schlimme Verdacht wich.
Nach ein paar Monaten aber bestätigte sich das Unglaubliche. Einer der Väter, Libor Broza, zweifelte daran, dass Nikola seine Tochter sei. Ihr Haar war immer dunkler geworden; aber weder seine Lebensgefährtin noch seine Vorfahren hatten dunkle Haare. In der Kneipe lästerten sie schon nicht mehr nur hinter vorgehaltener Hand. Jaroslava Trojanova, die Mutter von Nikola, habe ihn „gehörnt”. Libor ließ heimlich einen Vaterschaftstest machen und bekam seine Zweifel bestätigt. Das Kind sei nicht von ihm. Schlimme Vorwürfe an Jaroslava folgten, die Beziehung drohte zu scheitern. Jaroslava, sich keines Fehltritts bewusst und verzweifelt ihre Treue beschwörend, machte ihrerseits einen Mutterschaftstest. Und der offenbarte, dass sie auch nicht die Mutter von Nikola sein könne.
Was folgte, war die Suche nach einer Mutter, die am selben Tag in Trebic entbunden hatte. Die war schnell gefunden. Als Jaroslava Cermakova und ihr Mann Jan zum ersten Mal Nikola sahen, brauchten sie keinen DNA-Test. Sie sahen sofort, dass Nikola ihre Tochter war. Doch die Eltern hatten ihre „falschen” Töchter mittlerweile lieb gewonnen, sie über Monate aufgezogen, auf jeden unruhigen Schlaf der Kleinen reagiert, ihre ersten Schritte begleitet, sich für sie aufgeopfert. Wie sollten sie mit dieser Situation umgehen?
Die Eltern vereinbarten zwar den „Rücktausch” der Kinder, aber sie konnten nicht so einfach von den falschen Töchtern lassen, die sie für ihre eigenen gehalten hatten. Jaroslava Trojanova wollte nach einiger Zeit gar den Tausch rückgängig machen. Sie konnte für Veronika nicht die Gefühle entwickeln, die sie zu ihrer falschen Tochter Nikola hatte. Die andere Mutter, Jaroslava Cermakova, musste einen Psychiater einschalten, der ihr den Zugang zu ihrer leiblichen Tochter erleichterte.
Mittlerweile haben sich die Eltern an ihre leiblichen Kinder gewöhnt, aber die Sehnsucht nach den aufgezogenen Kindern weicht nicht so leicht. Ihnen hilft die örtliche Nähe: Die Familien wohnen nur eine halbe Autostunde voneinander entfernt. So oft es geht, sehen sich die Kinder, die unterdessen die „dicksten Freundinnen” geworden sind, wie beide Mütter bestätigen. Sie ignorierten den Rat der „Experten”, von den aufgezogenen Kindern zu lassen. Sie hätten das auch gar nicht gekonnt.
Die „falschen” Eltern heißen im Sprachgebrauch der Kinder jetzt „Tante“ und „Onkel“. Zu Weihnachten verbrachten die Familien einen Tag bei den Cermakovas und einen Tag bei Frau Trojanova und ihrem Partner Libor Broza. Auch diesmal mit gemeinsam besorgten Geschenken. Die Kinder wundern sich heute über die vielen Fotos des jeweils anderen aus Säuglingstagen in den Fotoalben der Eltern. Noch können die Eltern das irgendwie erklären. Mit der „ganzen Wahrheit“ wollen sie erst herausrücken, wenn die Kinder vor dem Schulanfang stehen. Derzeit gehen beide noch in die Kita.
Alles könnte sich schrittweise normalisieren, wenn da nicht noch die Frage der Entschädigung wäre, die beide Elternpaare vom Krankenhaus in Trebic verlangt haben. Sie wollten anfangs die in Tschechien unglaubliche Summe von 12 Millionen Kronen erstreiten, das sind umgerechnet fast eine halbe Million Euro. Das Krankenhaus war zu keiner einzigen Krone Entschädigung bereit; von dort hat es bislang nur eine halbherzige schriftliche Entschuldigung gegeben, die der damalige Klinikchef wortlos zu den Eltern brachte. „Ein wirkliches Bedauern haben wir nicht gespürt”, sagt Jaroslava Trojanova.
2009 befand ein Gericht, dass den Eltern und Kindern insgesamt eine Schadenersatzsumme von 3,3 Millionen Kronen zustünde. Das will die Klinik aber nicht zahlen; sie ging in Berufung. Vor allem wehrt sich die Klinik dagegen, die Kinder zu entschädigen: die hätten ja keinen Schaden genommen. Wenn sie später Probleme bekämen, müssten sie halt zum Psychologen gehen, sagt man dort lapidar.
Über die Berufung wird nun ab diesem Mittwoch vor der nächst höheren Instanz in Olomouc (Olmütz) verhandelt. Die Eltern haben bislang nur Schulden, weil sie den Prozess angestrengt haben und in Vorkasse gehen mussten. „Es geht uns gar nicht ums Geld“, beteuert Libor Broza. „Wir wollen einfach nur endlich unsere Ruhe haben.“ Und die Cermakovas pflichten dem bei: „Was man uns und den Kindern angetan hat, lässt sich ohnehin nicht mit Geld aufrechnen. Diesen Eingriff in unser aller Leben kann man nicht gut machen.“
Hans-Jörg Schmidt
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