Ukraine

Weiß oder Blau, aber nicht Orange

Vor dem Haus des Handels, Tscherkassys größtem Einkaufszentrum, sind die Blauen heute spät dran. Die Konkurrenz hat ihr Zelt schon aufgeschlagen: Strahlend weiß leuchten die Planen mit dem stilisierten roten Herz. Und während die Blauen noch an ihrem Stand werkeln, verteilen die Weißen bereits ihre Wahlpropaganda. Es gibt einen Hochglanzkalender für 2010, der eine in weiß gewandete, strahlend lächelnde Julia Timoschenko zeigt, die sich an ein Albino-Tigerchen kuschelt und Glück im Neuen Jahr wünscht. Dazu eine Zeitung, die den Besuch der Premierministerin in Tscherkassy Ende des vergangenen Jahres feiert – 50.000 begeisterte Bürger, rühmt sich das Blättchen, wollten dabei „ihre Julia“ sehen.

Am Sonntag ist der erste Wahlgang und der Präsidentschaftswahlkampf in der Ukraine geht in die entscheidende Phase. Zwar stehen 18 Kandidaten zur Wahl – darunter, weit abgeschlagen, der derzeitige Präsident und einstige Held der Orangefarbenen Revolution, Viktor Juschtschenko – doch es gibt nur zwei ernsthafte Anwärter für das Amt: Premierministerin Julia Timoschenko (weiß) und Viktor Janukowitsch (blau), der 2004 in der nach Protesten wiederholten Präsidentschaftswahl Juschtschenko unterlag. Allen Umfragen zufolge wird Janukowitsch den ersten Wahlgang locker vor Timoschenko für sich entscheiden. Und obgleich Janukowitsch auch im zweiten Wahlgang ein komfortabler Vorsprung prognostiziert wird, könnte es da vielleicht doch enger werden. Viele Wähler des zersplitterten Anti-Janukowitsch Lagers werden sich hinter Timoschenko stellen.

Gerade in der Zentralukraine ist jede Stimme heiß umkämpft. Dort, wo die Menschen meist ihren ganz eigenen Mix aus Ukrainisch und Russisch sprechen, sind die politischen Bindungen mitunter unklarer als im Westen, der hauptsächlich an Timoschenko gehen wird, oder als im Osten und Süden des Landes, dem Stammland Janukowitschs. Sollte es eng werden, könnte sich der Ausgang der Wahl im Zentrum entscheiden – in Kiew natürlich, aber auch in Städten wie Tscherkassy, 290.000 Einwohner, gelegen am Dnjepr, 200 Kilometer stromab der Hauptstadt, was recht genau die geographische Mitte des Landes markiert.



Für höhere Renten! Aufmarsch der Blauen vor Tscherkassys Rentenamt / Björn Jungius, n-ost

Tscherkassy ist eine Stadt von beschaulicher Atmosphäre. Sowjetische Apartmenthäuser wechseln mit bäuerlichen Einfamilienhäusern und einigen historischen Gebäuden aus der Zarenzeit. Der Stagnation der Außenbezirke stehen die Veränderungen im Zentrum gegenüber, wo schicke Cafés und Boutiquen Glamour versprühen. Von der schweren Wirtschaftskrise, die die Ukraine seit September 2008 heimgesucht hat, sieht man auf den ersten Blick wenig. Im Gegenteil, der neue Bürgermeister, der schwerreiche Geschäftsmann Sergej Odaritsch, hat sich daran gemacht, das Stadtbild aufzupolieren – Mülleimer wurden aufgestellt, die aus Sowjetzeiten stammende Statue „Mutter Heimat“ wieder mit einem „ewigen Feuer“ versehen, und die öffentlichen Parks werden wieder gepflegt.

Eigentlich sollte in Tscherkassy für die Weißen alles klar sein. Bei den Parlamentswahlen 2007 kam der Block Julia Timoschenko auf 47 Prozent, Janukowitschs Partei der Regionen nur auf 15. Auch bei den Präsidentschaftswahlen 2004 war die Zentralukraine geschlossen gegen den Wahlfälscher Janukowitsch und wählte mit überwältigender Mehrheit orange. In Tscherkassy stimmten damals im dritten Wahlgang  79 Prozent für Juschtschenko.

Auf diesen Lorbeeren freilich können sich die Weißen nicht ausruhen. Und da die eine Seite nichts anbrennen, die andere nichts unversucht lassen will, stehen überall in der Stadt die weißen und blauen Zeltchen, verteilen Wahlkämpfer ihre nahezu identische Materialien: den Kalender, das schmale Wahlprogramm mit den populistischen Parolen – Stärkung des Rechtsstaats, der Wirtschaft – die vielen Passanten nur hämische Kommentare entlocken. In Tscherkassy gilt das gleiche wie für den Rest des Landes: Fast alle Menschen sind desillusioniert. Die versäumten Reformen, die erbitterten, das Land paralysierenden Machtkämpfe im ehemals orangefarbenen Lager, die verheerende Korruption, inzwischen höher als zur Amtszeit des autoritären Präsidenten Kutschma, die schamlose Selbstbedienungsmentalität und das Über-dem-Gesetz-Stehen auch der neuen Machthaber, treibt viele ungewollt in die Wahlabstinenz. „Ich würde ja gerne wählen, aber wen? Der Teufel soll sie alle holen!“ – die Aussage eines Taxifahrers bringt auf den Punkt, was viele denken.

Umfragen sagen aber auch, dass 70 Prozent der Ukrainer wählen wollen. So ist das Schewtschenko-Theater brechend voll. Der Innenminister, Juri Luzenko, in Deutschland kein Unbekannter, seit er im vergangenen Jahr betrunken auf dem Frankfurter Flughafen randalierte, spricht. Einst pro-Juschtschenko, wirbt er nun für Timoschenko. Seine Botschaft ist simpel. Wählt bloß nicht Zek! „Zek“ ist Janukowitschs Spitzname, im Slang eine Bezeichnung für einen, der mal gesessen hat – als junger Mann landete Janukowitsch gleich zweimal im Gefängnis, wegen Diebstahls und Körperverletzung. Stellt euch vor, spottet Luzenko, unser künftiger Präsident wäre zu Gast bei der Queen. Als er abreist, muss sie feststellen, dass mit ihm auch ihr Tafelsilber verschwunden ist. Was für eine Werbung wäre das für unser Land? Nein, ein Ex-Knacki als Präsident sei das falsche Vorbild für die Jugend.

Ähnliches, nur unter verkehrten Vorzeichen ist im blauen Wahlkampfbüro zu hören. Die jungen Kampagnen-Manager haben keine Zeit, um Fragen zu beantworten. Ein älterer Herr wird vorgeschoben. Wie zuvor Luzenko, wirft er der anderen Seite Gesetzlosigkeit vor – die Orangefarbene Revolution sei ein „Putsch“ gewesen, „Julka“ (Julia Timoschenko) werde alles daransetzen, ihre Position auszunutzen, um die Wahlergebnisse zu ihren Gunsten zu fälschen. Eine Befürchtung, die übrigens auch von Juschtschenko geäußert wurde.

Es folgt eine Tirade gegen die angeblich nationalistischen Westukrainer. Mit diesem Vorwurf wirkt der alte Herr etwas anachronistisch. Denn Weißen wie Blauen geht es in diesem Wahlkampf nicht um die großen, polarisierenden ukrainischen Identitätsfragen (West oder Ost, Europa oder Russland), sondern – wenn nicht gerade der Gegner als gesetzlos denunziert wird – pragmatisch-populistisch um soziale und wirtschaftliche Probleme. Für viele stellt sich die Frage, ob es einen großen Unterschied macht, wer das Land regieren wird. So gilt Timoschenko, nicht Janukowitsch, inzwischen als Favorit Moskaus. Sie hat sich von einem ukrainischen NATO-Beitritt distanziert und pflegt gegenüber Russland einen ganz anderen Ton als der im Kreml als „ukrainischer Nationalist“ verhasste Juschtschenko mit seiner expliziten Geschichts- und Symbolpolitik.

Slawa, ein junger Politologe aus Tscherkassy, befürchtet gar, dass die Ukraine kurz vor einem neuerlichen autoritären Experiment stehe, ganz gleich ob nun Timoschenko oder Janukowitsch Präsident werde. Ihren Humor haben die Menschen auf Tscherkassys Straßen indes nicht verloren. „Man, wie sich Zek ins Zeug legt!“, sagt ein Mann zu seinem Freund, als sie einen Aufmarsch der Blauen vor dem Rentenamt passieren, der lautstark für eine Rentenerhöhung demonstriert. „Na, sagt der Andere trocken, jeder Knacki hat doch eine zweite Chance verdient.“


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