Ukraine

Wirtschaftskrise, Wahlkampf, Worthülsen

Sie hat gerade ihren Bürojob an den Nagel gehängt, um einen  Kleiderladen zu eröffnen. „Schlimmer kann es nicht werden in diesem Jahr– aber so wirklich besser war es auch nie“, sagt die Frau um die 30. Sie trägt bunt bemalte Gummistiefel und ein breites Grinsen im Gesicht. Ihr früherer Arbeitgeber hatte ihr im Vorjahr dreimal den Lohn gekürzt. Danach kamen Arbeitszeitkürzungen, Kündigungen. Und dann hat sie sich frei gemacht von den Zwängen eines Büroalltags, um sich einen Traum zu erfüllen, wie sie sagt. Sie hat ihr Auto verkauft, alles Geld zusammengekratzt und ein Geschäft in einer schräg-schicken Gegend Kiews angemietet.

„Welche Krise, worum geht es?“, ruft andernorts ein arbeitsloser Jungbanker in einer Bar in der ukrainischen Hauptstadt, ein Bierglas in der Hand. Sein Traum ist zerplatzt. Geblieben sind Schulden bis über beide Ohren, die Gewissheit, dass am Morgen danach der Schädel brummt, und die Hoffnung, dass sich nach den Wahlen alles wieder irgendwie einrenkt.

Am 17. Januar findet in der Ukraine die Präsidentschaftswahl statt – die erste seit der spektakulären Wende vor fünf Jahren, die sich den Markennamen „Orangene Revolution“ zugelegt hatte. Die Akteure 2010 sind die selben wie 2004/2005: Viktor Juschtschenko, der das Präsidentenamt gegen seine einstige Verbündete und heutige Rivalin, die  Premierministerin Julia Timoschenko, sowie seinen damaligen wie heutigen Gegner Viktor Janukowitsch verteidigen will. Für den amtierenden Präsidenten geht es dabei ums politische Überleben. In Umfragen ist er weit abgeschlagen hinter Janukowitsch und Timoschenko, die beide bei knapp 30 Prozent liegen.

Nur eines kommt Juschtschenko wohl zugute: In Euphorie versetzt heute keiner der Kandidaten seine Anhänger. War es die Hoffnung auf Veränderung und bessere Zeiten, mit der die Ukrainer 2004 mit Feuereifer zur Wahl gegangen waren, so herrscht heute Ernüchterung: über die politische Elite, die wirtschaftliche Situation, den Zustand des Landes an sich, den Stillstand.

Die vergangenen Jahre waren für die Ukraine kompliziert, das Jahr 2009 aber war für das Land ein Desaster. Die Wirtschaftskrise war gerade deutlich spürbar, als Russland im Januar 2009 das Gas abdrehte. Zugleich eskalierte erneut der Machtkampf zwischen Timoschenko und Juschtschenko, der in der Folge das Parlament lähmte, während überall vom drohenden Staatsbankrott die Rede war. Dazu kam die Schweinegrippe-Epidemie und jetzt eben der Wahlkampf, der allen Mahnungen zum Trotz alle nötigen Reformen zum Stehen brachte: Für das laufende Jahr hat sich die Oberste Rada in Kiew noch auf keinen Haushalt einigen können. Und wie Beobachter in Kiew meinen, wird es bis mindestens Februar keinen geben. Ein Land im volkswirtschaftlichen Blindflug.

Die Industrieproduktion ging 2009 im Vergleich zum ohnehin schon schlechten Jahr 2008 um weitere 26,4 Prozent zurück. Das BIP lag im dritten Quartal 2009 um 15 Prozent unter dem Vergleichswert von 2008. Angesichts der zusammenbrechenden Wirtschaft ist das Land von internationalen Geldern anhängig. Timoschenko selbst sagte zum Jahreswechsel, der Staatsbankrott sei 2009 knapp abgewendet worden. Möglich war das nur mit Hilfe internationaler Darlehen. Institutionen wie der Internationale Währungsfonds IWF oder die Europäische Union haben Kredite für die Ukraine jedoch an massive Sparmaßnahmen, Reformen im Beschaffungswesen des Staates sowie im undurchsichtigen staatlichen Gassektor geknüpft. Am deutlichsten forderten sie beispielsweise die Erhöhung des Gaspreises für private Abnehmer, was jedoch die Kandidaten in Wahlkampfzeiten für schlicht nicht durchsetzbar hielten.

Die Folge: Der IWF hat die vierte Tranche eines insgesamt 16,4 Mrd.-Dollar-Kredits auf unbestimmte Zeit eingefroren. Ebenso die EU, die einen 600 Millionen-Kredit derzeit nicht auszahlen möchte. Sie ging beim EU-Ukraine-Gipfel Anfang Dezember demonstrativ auf Distanz und übte ungewöhnlich scharf Kritik an der ukrainischen Führung.

Bis zum Ende der Wahlperiode aber wird wohl wenig geschehen, was internationale Geldgeber umstimmen könnte. Eher im Gegenteil: Die durchaus dringlichen sozialen Themen stehen im Wahlkampf aller Wahllogik entsprechend ganz oben. Und das sind nicht die Lieblingsthemen von IWF und EU. Da hatte etwa Juschtschenko plötzlich die Idee einer 20-prozentigen Erhöhung von Löhnen und Pensionen. Timoschenko machte in der Folge den Präsidenten dafür verantwortlich, mit solchen Aussagen internationale Geldgeber abzuschrecken, um auf diesem Weg Budgettöpfe der Premierministerin auszutrocknen und dadurch doch noch die Wahl gewinnen zu können.

Aber auch Timoschenko verspricht – wenn auch etwas kryptischer – ihren Wählern Sicherheiten, die kaum zu leisten sind. Da spielt es keine Rolle, dass Sozialpolitik nicht zu den Obliegenheiten des Präsidentenamtes gehört. Und auch nicht, dass der Staatshaushalt ziemlich klamm ist.

Doch wer tatsächlich neuer Präsident wird und welche Politik dann die Ukraine bestimmt, das könnte sich womöglich noch nicht am 17. Januar entscheiden. Dmitry Yarosh von der Zeitung „Invest Gazeta“ rechnet erst im Mai mit einer definitiven Entscheidung. Man müsse damit rechnen, dass die Wahl angefochten wird, dass das Verfassungsgericht angerufen werde, sagt er. Und dann bleibt auch noch abzuwarten, ob der oder die Neue an der Staatsspitze nicht auch gleich das Parlament auflöst, um genehme Mehrheiten zu schaffen. Das würden auch internationale Investoren befürchten, die sich derzeit noch zurückhielten, sagt Yarosh. „Aber es gibt zumindest ein Licht am Ende des Tunnels.“

Tatsächlich zeigte sich zum Ende des Jahres 2009 eine Verbesserung der Wirtschaftsleistung – zumindest eine Verlangsamung des Rückgangs im Vergleich zum Vorjahr. Die Arbeitslosigkeit ist allerdings unverändert hoch. Offiziell sind derzeit um die vier Prozent Menschen arbeitslos – wobei die Registrierung äußerst lückenhaft ist. Schätzungen gehen von eher von 12 bis 20 Prozent aus. Im Wirtschaftsministerium in Kiew keimt jedoch wieder leise Optimismus. 2010 könnte das BIP wieder ein Plus aufweisen. Vielleicht drei oder vier Prozent – der Traum eines Wirtschaftsministers.


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