Baltische Weihnacht
Endlich sitzt da mal ein Weihnachtsmann, der nicht schon wieder weg ist,
bevor die Kinder den ersten Schreck verdaut haben. Andrus schließt
jeden Tag um 13 Uhr sein „Jouluvana Maja“ auf, das
Weihnachtsmannhüttchen im Zentrum von Tallinn. Er ist der Hausherr. Bis
18 Uhr hält Andrus bei geöffneter Tür Sprechstunde, neben sich Körbchen
mit Bonbons und Keksen, hinter sich einen Schaukelstuhl, an der Wand
Weihnachtspost und eine Landkarte von Skandinavien.
Er winkt und
nickt den Kleinen aufmunternd zu, die sich draußen auf dem
Kopfsteinpflaster des Rathausplatzes an ihre Eltern klammern und ein
paar Augenblicke brauchen, um Mut zu fassen und mit ihren Gedichten oder
Liedern vor den bärtigen Herrn mit der Zipfelmütze zu treten. Manchmal
möchten jüngere und ältere Besucher auch Kummer loswerden. Dann versucht
Andrus, ein bisschen Lebenshilfe zu geben. Er ist ein Weihnachtsmann
von Welt, der seine „Kundengespräche“ je nach Bedarf auf Estnisch,
Russisch oder Englisch führt und sogar ein wenig Finnisch spricht.
Gegenüber
vom wichtigsten Arbeitsplatz auf Tallinns Weihnachtsmarkt steht ein 22
Meter hoher Tannenbaum, um den sich die Holzhütten und eine Bühne
gruppieren. Eingerahmt wird die Szenerie vom spätgotischen Rathaus mit
seinem schlanken Turm und von malerischen Bürgerhäusern aus dem 15.
Jahrhundert, die auf die deutsche Geschichte der Hansestadt an der
Ostsee verweisen.
Weihnachtsmarkt im mittelalterlichen Stadtkern von Tallinn. / Tino Künzel, n-ost
Das einstige Reval liegt weihnachtsmäßig etwas ab vom Schuss, was jedoch andererseits ein Segen ist: Der Weihnachtsmarkt an der Nordspitze des Baltikums ist längst nicht so überlaufen wie seine Pendants in deutschen Großstädten. Mit 200.000 Besuchern rechnen die Veranstalter in diesem Jahr – ein Zehntel dessen, was der Christkindlesmarkt in Nürnberg anlockt. Dabei hat der Tallinner Markt sogar 40 Tage lang geöffnet, bis zum orthodoxen Weihnachtsfest am 7. Januar. Denn ein Drittel der Stadtbevölkerung sind Russen.
Den höchsten Anteil unter den ausländischen Besuchern machen die Finnen aus. Für sie ist es ein Tagesausflug: Mit den fast schon im S-Bahn-Takt verkehrenden Fähren dauert die Überfahrt von Helsinki kaum mehr als zwei Stunden. Aber auch anderswo hat sich herumgesprochen, dass dieser Weihnachtsmarkt, der „Jouluturg“, zu den schönsten in ganz Europa gehört: beschaulich, besinnlich, unaufdringlich. Andreas Rudo, Finanzbeamter aus Tallinns Partnerstadt Kiel, ist nach einem Bummel begeistert: „Wer das Geschubse und Gedränge bei uns zu Hause kennt, für den ist das hier eine Wohltat. In Tallinn kommt wirklich noch Vorweihnachtsstimmung auf, so wie früher.“
Holzhandwerk und estnische Souvenirs statt Haushaltsgeräte und Asiapfanne. / Tino Künzel, n-ost
Die Touristen defilieren in aller Ruhe an den 64 Ständen vorbei, trinken einen „Glögi“, wie der Glühwein hier heißt, kaufen sich eine „Müts“ im landestypischen Muster – dann sind sie auch schon im Labyrinth der Unterstadt und des Dombergs verschwunden. Denn Tallinn mit seinem Unesco-geschützten Altstadtkern, mit seinen Gässchen, Treppen, Kirchturmspitzen und der Stadtmauer mit ihren Wehrtürmen hat noch sehr viel mehr zu bieten. Und so ist der einzige Ort, an dem sich gelegentlich eine Schlange bildet, tatsächlich das Weihnachtsmannhäuschen.
Die Esten gelten als Musterschüler der europäischen Integration. Innerhalb weniger Jahre haben sie den Mief der Sowjetzeit abgestreift, ohne dabei ins andere Extrem zu verfallen und ihre Seele an den Kommerz zu verkaufen. Tallinns Fußgängerzonen werden von kleinen Läden dominiert und nicht von den immer gleichen Filialen großer Ketten. Auch der Weihnachtsmarkt gibt sich in dieser Beziehung tugendhaft. Angeboten wird nur, was einen Bezug zu Weihnachten oder zumindest zur Wintersaison und zu Estland hat. Also keine „Asiapfanne“, keine Haushaltsgeräte und Ramschkisten. Stattdessen viel eigenes Handwerk, Holzarbeiten, Weihnachtsschmuck, Textilien.
Weihnachtsmann Andrus nimmt Wünsche auf Estnisch, Russisch und Englisch entgegen. / Tino Künzel, n-ost
Ob und wie sich die Wirtschaftskrise auf den Umsatz auswirken wird, da will sich im Moment noch niemand festlegen. Fakt ist, dass die Idylle leicht getrübt ist und der Aufbruchstimmung in Estland wie im gesamten Baltikum ein herber Dämpfer verpasst wurde. Ein Beispiel dafür ist Mark, ein Este in den mittleren Jahren, der am Rande des Weihnachtsmarkts Handzettel verteilt. Die Coupons versprechen in den umliegenden Restaurants einen Preisnachlass. Mark ist von Beruf Übersetzer, muss sich jedoch mit solchen Jobs durchschlagen. „Ich spreche sechs Sprachen, aber Bildung ist eben nur in einer gebildeten Gesellschaft gefragt“, sagt er bitter. Andererseits gefalle ihm die Arbeit hier, denn er rede gern mit Leuten, sagt er und lotst eine Gruppe Italiener ins „Fellini“ an der Westseite des Rathausplatzes.