Demjanjuk - kein Opfer, sondern Täter
(n-ost) – Der Anwalt von John Demjanjuk macht aus seinem Klienten ein Opfer. Demjanjuk sei genauso ein Opfer gewesen wie die Insassen, sagt er. Die Staatsanwaltschaft wirft dem 89-jährigen Ukrainer Beihilfe zum Mord an rund 29.000 Juden im Vernichtungslager Sobibor vor. Seit Montag steht der mutmaßliche Kriegsverbrecher in München vor Gericht.
Als er die Worte des Anwalts hört, sieht der 82-jährige Thomas Blatt viele Gesichter vor seinem geistigen Auge. Seine Mutter, seinen Vater und den jüngeren Bruder. Seine Cousine mit einem kleinen Kind im Arm und ihren Mann, der damals neben ihr stand. Ein Freund, der Pech hatte, weil er zu krank war. Weitere Tausende von Juden sieht Blatt vor sich, die als letzte die Türen zu den Gaskammern gesehen haben, gedrängt von schimpfenden Wächtern. Blatt sieht einen 16-jährigen Jungen, der auf einmal erfährt, das er allein in der Welt ist – und darf dabei nicht einmal weinen. Ansonsten wird er von den genervten Wächtern umgebracht. Blatt war dieser Junge. Der polnische Jude wurde mit seiner Familie und Nachbarn in das Vernichtungslager Sobibor gebracht. Die Selektion hat er überlebt, weil der Kommandant einen Schuhputzer für sich gebraucht hat. Blatts Familie wurde vergast.
„Ohne Menschen wie Demjanjuk hätten selbst die Deutschen nicht so viele Menschen umbringen können“, sagt Blatt. „Er war ein Zahnrädchen dieser Todesmaschine.“ Ihn den Opfern gleich zu stellen, sei ein Verbrechen. Dabei macht Blatt, trotz seiner Vergangenheit, nicht den Eindruck, als ob er sofort Menschen verurteilen würde. Er verlange allein Gerechtigkeit und Wahrheit, wiederholt er ständig. „Demjanjuk hat ein langes und gutes Leben gehabt. Ich habe meine Familie verloren und träume jede Nacht von diesen Schrecken in Sobibor. Das ist nicht gerecht.“
Es ist nicht so, dass Blatt die Wächter pauschal verurteilt. Nein, er versucht sie zu verstehen. Er versteht schon, warum sich sowjetische Kriegsgefangene wie Demjanjuk für die Mitarbeit mit den Deutschen entschieden haben. „Sie wollten ja auch leben.“ In dem Lager, in dem Kriegsgefangene gehalten wurden, waren die Bedingungen furchtbar, erzählt Blatt selbst. Die Menschen starben einfach so weg. „Dann denkt man allein ans Überleben.“ Doch raus aus dem Lager zu kommen, hieß nicht unbedingt, Menschen umzubringen. „Ich weiß, dass viele Ukrainer, die bei der SS waren, desertiert sind, sobald sie den ersten Urlaub bekommen haben. Sie wurden ja nicht die ganze Zeit bewacht. Sie liefen weg und versteckten sich.“
Demjanjuk habe das nicht gemacht. Und er gehörte offenbar zu den Wächtern, die geradezu hingebungsvoll ihre Aufgaben ausgeübt haben. „In den KZs sollten die ukrainischen Wächter die Juden sortieren und in die Gaskammern bringen“, erzählt Blatt. „Doch den meisten hat das nicht gereicht. Sie haben sogar die Befehle freiwillig übererfüllt. Sie haben die Menschen unter Schreien, Beschimpfungen und Schlägen in den Tod geführt. Sie haben sie bis zur letzte Minute erniedrigt und gequält. Sie fanden Gefallen daran.“
Dafür muss jetzt auch Demjanjuk zu Verantwortung gezogen werden, fordert Blatt. Er selbst könne sich zwar an ihn nicht erinnern. Sich die Gesichtszüge der einzelnen Menschen zu merken, daran denke man in solchen Momenten nicht. Die Zeit tut ihr übriges. Er könne sich kaum noch an die Gesichter seiner vergasten Eltern erinnern, gibt Blatt verbittert zu. Doch er glaubt an die Beweise, die zeigen, dass Demjanjuk als Wächter in Sobibor war. Wenn er dort war, dann war er ein Verbrecher und kein Opfer. In Sobibor habe es einfach keine „armen Wächter“ gegeben. „Sie waren alle Mörder, die Schlimmsten der Schlimmsten“, sagt Blatt. Für Blatt ist die Sache klar: Die, die nicht töten wollten, seien nicht dagewesen.
Doch eine Rache will Thomas Blatt nicht. Er will auch nicht unbedingt, dass Demjanjuk ins Gefängnis geschickt wird. An dessen schlechtes Gewissen glaubt Blatt auch nicht mehr. Doch die Taten müssen verurteilt und verdammt werden, so wie diese Menschen. Und Demjanjuk persönlich. „Ich war jedes Mal enttäuscht, wenn ich die Prozesse gegen Sobibor-Funktionäre beobachtet habe“, erzählt er. In Hagen hätten die SS-Männer aus Sobibor ein paar Jahre Haft bekommen. „Für so viele Tote.“ Lediglich in der Sowjetunion wurden zehn ukrainische Aufseher zur Todesstrafe verurteilt. Der Prozess von Demjanjuk ist wohl der letzte dieser Art. „Und deshalb so enorm wichtig“ sagt Blatt. „Damit das Verbrechen nicht vergessen wird.“
INFOKASTEN:
In Sobibor, im heutigen Ostpolen, befand sich in Jahren 1942-43 ein Vernichtungslager. Ca. 250.000 Juden sind dort vergast worden. Sie stammten aus Mittelosteuropa, aber auch aus Deutschland und Holland. Überwacht wurde das Lager von 30 deutschen und ca. 100 ukrainischen SS-Leuten. Am 14. Oktober 1943 starteten die Gefangenen des sogenannten Arbeitskommandos (Juden, die für die deutsche Belegschaft bzw. beim Sortieren der Sachen der Getöteten gearbeitet haben) einen Aufstand. Ca. 300 Gefangene haben einen Fluchtversuch unternommen, ca. 150 waren erfolgreich. Bis Ende des Krieges überlebten ca. 50, Thomas Blatt ist einer von ihnen. Nach dem Aufstand wurde das Lager aufgelöst.
Agnieszka Hreczuk
ENDE
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