Ungarn

1989 in ungarischen Medien

In Ungarn ist im letzten Quartal dieses Jahres vor allem in den Medien eine rege Auseinandersetzung mit der politischen Wende 1989 zu beobachten. Die Oktober-Nummer der ehemaligen Samisdat-Zeitschrift Beszélő etwa bringt einen Aufsatz des Historikers Béla Révész über die Rolle von Radio Free Europe (RFR) zur Zeit des Systemwechsels 1989/90. Titel: „Zuerst Verbot, dann Duldung”. Révész schreibt, dass RFR „eine wichtige Rolle gespielt hat, den Boden für die politische Kultur des Übergangs vorzubereiten“. Die sozialistischen Länder, in denen RFR zu empfangen war, hatten die Tätigkeit des Radiosenders von Anfang an als ’psychologischen Krieg’ und feindliche ’ideologische Diversion’ bewertet. In Hinblick auf die Ausspähung des Radiosenders durch das sozialistische Regime in Ungarn heißt es in Révész’ Aufsatz weiter: „Im Jahr 1989 bestand die Beobachtung der Tätigkeit von Radio Free Europe vor allem darin, die Kontakte zwischen dem Radiosender und der demokratischen Opposition auszuspionieren”.

In ihrer Herbstausgabe widmet sich die kulturelle Vierteljahreszeitschrift Magyar Lettre einerseits der Wende 1989, andererseits der „Deutschen Einheit am Balaton”. Zum Thema „1989” sind Aufsätze und Interviews von Zsolt Csalog, Adam Michnik, Mariusz Szczygieł, Václav Havel, Martin M. Šimečka, Karl Schlögel, Svetlana Aleksejevič, Artur Klinau, Katharina Raabe, Dan Lungu, Lajos Jánossy und János Géczi zu lesen. Zu zweitgenanntem Thema gibt es Beiträge von György Dalos, Noémi Kiss, Regine Möbius, Kriszta Slachta, Ingo Schulze, János Deme und Gábor Németh. In Anlehnung an die Herbstnummer von Magyar Lettre findet es am 13. November im Budapester Goethe Institut ein „Werkstattgespräch” zum Thema „Deutsche Einheit am Balaton” statt. Die Teilnehmer: János Deme, Kriszta Schlachta und Regine Möbius. Überdies gibt es am Abend desselben Tages im Café des Goethe Instituts, Eckermann, eine Lesung, an der György Dalos, Noémi Kiss, Regine Möbius und Ingo Schulze teilnehmen.

Die liberale Wochenzeitung Hetek bringt in ihrer Ausgabe vom 22. Oktober zwei Interviews, die die Geschehnisse von 1989 zum Thema haben. Die Historikerin Mária Ormos sagt: „Für einen Systemwechsel, der diesen Namen auch verdient, ist eine gesellschaftliche Debatte unerlässlich. Eine solche hat (in Ungarn) bis zum heutigen Tag aber nicht stattgefunden. Nur eine kleine Elite hatte die Wende damals verhandelt, worauf die Republik am 23. Oktober 1989 ausgerufen wurde. Unsere Wunden brechen deshalb immer wieder auf, weil es in Ungarn in den grundlegenden Fragen keinen gesellschaftlichen Konsens gibt.” Gesprächspartner des zweiten Interviews war der   letzte Staatsminister im real existierenden Sozialismus in Ungarn, Imre Pozsgay, stellt klar, dass er die Meinung vieler demokratiemüder Ungarn nicht teile, „die behaupten, dass es gar keinen Systemwechsel gab. Natürlich gab es einen Systemwechsel, nur haben wir nicht das Beste daraus gemacht”. Laut Pozsgay, der sich vom Reformkommunisten zum Demokraten gewandelt hat, ist allein schon die Tatsache begrüßenswert, dass Ungarn die Diktatur und das sowjetische Joch abgeschüttelt habe.

In der liberalintellektuellen Wochenzeitung Élet és Irodalom bricht der Essayist und Übersetzer János Széky mit einem Aufsatz unter dem Titel „Weder Revolution noch Übergang” (22. Oktober 2009) eine Debatte über die Wende los. Széky schlägt in dieselbe Kerbe wie die Historikerin Mária Ormos: Es herrsche in Ungarn kein Einvernehmen darin, was das Jahr 1989 eigentlich bedeutet. Die Begriffe „Revolution”, „Übergang” und „Systemwechsel” werden heute je nach parteipolitischem Hintergrund unterschiedlich interpretiert, so Széky. In seiner Reaktion auf Székys Aufsatz schreibt der Historiker Zoltán Ripp (30. Oktober 2009; Élet és Irodalom), dass der Begriff „Systemwechsel” für die Zäsur – sprich den Übergang vom Staatssozialismus zum kapitalistischen System – angemessen sei. Für die Bennennung des Transformationszeitraums nach dem Systemwechsel 1989 hält Ripp den Begriff System-Umgestaltung am besten geeignet.

Auch der Mathematiker Béla Vizvári meldet sich in der Debatte über die Wende zu Wort (6. November 2009, Élet és Irodalom). Vizvári stellt die Frage, warum viele Ungarn nostalgisch auf den real existierenden Sozialismus zurückblicken. Laut Vizvári ist diese „wichtige Frage” von den politischen Eliten bis heute nicht beantwortet worden. „Ohne die korrekte Beantwortung dieser Frage kann das heutige System aber weder verbessert noch akzeptabler gemacht werden”, schreibt Vizvári.

Schließlich ist auf den Seiten von Élet és Irodalom ein Debattenbeitrag des Schriftstellers und Literaturhistorikers Béla Bodor zu lesen (13. November 2009). Bodor bringt seine Meinung darin so auf den Punkt: „Es hat Veränderungen gegeben, einen Systemwechsel aber nicht.” Élet és Irodalom (Leben und Literatur) widmet in zwei aufeinander folgenden Ausgaben (22. und 30. Oktober 2009) auch seine Literaturseiten dem Gedenken an die Wende 1989. Zum einen kommentieren der Schriftsteller László Márton und der Dichter András Forgách ihre Tagebucheintragungen von damals. Zum anderen sind zwei Prosatexte der Schriftsteller Endre Kukorelly und Tibor Zalán zum Thema 1989 zu lesen.

In der konservativen Wochenzeitung Heti Válasz werden die Ereignisse vor zwanzig Jahren ebenfalls thematisiert. In einem Interview mit dem Blatt stellt der Übersetzer, Soziologe und konservative Politiker Gyula Tellér fest, dass der Systemwechsel in seiner Entfaltung von reaktionären Kräften behindert worden sei (15. Oktober 2009). Ebenfalls in der Wochenzeitung Heti Válasz gesteht der Chef des Außenpolitik-Ressorts bei Newsweek Polska, Jaroslaw Gizinski, ein, dass er und viele andere Intellektuelle vor zwanzig Jahren naiv gewesen seien. „Die Naivität lag darin, dass wir glaubten, ein Systemwechsel sei genug, um in relativem Wohlstand und sicheren Verhältnissen zu leben.” (29. Oktober 2009).

In der rechtskonservativen Tageszeitung Magyar Hírlap schlägt der Politologe Tamás Fricz besonders skeptische Töne an. Fricz ist der Ansicht, dass der Systemwechsel „bloß formell und in rechtlichem Sinne” stattgefunden habe. Laut Fricz tummeln sich im ungarischen Beamtenapparat heute noch immer die alten Kader. Der Politologe kommt mithin zu folgendem Schluss: „Die Form hat sich verändert, der Inhalt aber nicht.” (30. Oktober 2009)

In der liberalen Wochenzeitung hvg ist jede Woche ein Artikel zu lesen, der vor 20 Jahren erschien. Titel der Artikelserie: „Was wir vor zwanzig Jahren geschrieben haben”.

Auf der Meinungsseite des Nachrichtenportals Origo, Komment, schreibt der PhD-Student und Kommentator Szabolcs Panyi, dass der Eiserne Vorhang noch immer in den Köpfen der Menschen sei. Panyi ist der Meinung, dass die Ungarn den Systemwechsel gar nicht so richtig gewollt hätten. Dafür spreche, dass die Nachfolgeorganisation der kommunistischen Staatspartei, die Ungarische Sozialistische Partei (MSZP), seit 1990 drei Mal an die Regierung gelangte und bei vier von fünf Parlamentswahlen stimmenstärkste Partei war, so Panyi.

Auf dem Buchmarkt gibt es im letzten Quartal 2009 drei wichtige Neuerscheinungen zum Thema 1989. Am 19. November 2009 werden die ersten zwei Bände einer neuen Buchreihe vorgestellt, die den Titel „Nach 20 Jahren” trägt. Eines der beiden Bücher wurde von dem oben zitierten Historiker Zoltán Ripp geschrieben, Titel: „Vertane Chancen? Sinn und Deutungen des Systemwechsels“. Das andere Werk wurde vom Soziologen László Laki verfasst. Titel des Buches: „Systemwechsel oder Die große Umgestaltung?“ Die konservative Stiftung Századvég wiederum hat ein Buch mit dem Titel „Die Krise des Systemwechsels” herausgegeben. Die beiden Autoren, Gábor G. Fodor und Tamás Kern, kommen darin zum Schluss, dass der postkommunistische Transformationsprozess aufgrund zahlreicher Versäumnisse noch nicht abgeschlossen sei.

Auch auf der Filmleinwand ist die Wende im letzten Quartal 2009 ein Thema. Gleich zwei Filmfestivals haben Filme über die Vorgänge während der Wendezeit auf dem Programm. Das internationale Menschenrechtsdokumentarfilmfestival Verzió (3. bis 8. November 2009) wartete dieses Jahr mit einer eigenen Filmkategorie („Zwanzig Jahre Demokratie”) zum Thema 1989 auf. Unter anderem werden die Umwälzungen von 1989 aus dem Blickwinkel von tschechoslowakischen Hippies, ostdeutschen Gefängniswärtern und polnischen Ziegen gezeigt. Im Budapester Memento Park (jenem Park, wo die Statuen aus der Zeit des real existierenden Sozialismus stehen) werden zwischen dem 4. und 7. November bereits zum dritten Mal die Aurora Filmtage organisiert. Sie zeigen zwölf Dokumentarfilme, die zum Großteil während des real existierenden Sozialismus entstanden sind, darunter auch sowjetische Propagandafilme.

Das 8. Zeitgenössische Dramafestival in Budapest vom 20. bis 28. November steht im Zeichen des Jahrestags der Wende. Neben Theatervorstellungen zum Thema gibt es auch eine wissenschaftliche Konferenz. Im Budapester Kiscelli Múzeum gibt es zwischen dem 15. Oktober und 22. November 2009 eine Schau mit dem Titel „Revolutionäre Dekadenz – Ausländische Künstler in Budapest seit 1989”.


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