1989 in tschechischen Medien
Am Vorabend begehen Beteiligte von einst das Jubiläum mit einem Gala-Konzert in der ehemaligen Kirche St. Anna in Prag. Das Gebäude wird seit Jahren von der Stiftung des früheren Präsidenten Vaclav Havel und dessen Ehefrau Dagmar in ein internationales Begegnungszentrum umgestaltet. Bei dem Konzert in der Regie Havels und des ehemaligen Dissidenten Michal Kocab treten Künstler auf, die, wie Havel betonte, „die Freiheit lieben und mit uns in den dunkelsten Zeiten solidarisch waren”. Eingeladen hatte Havel den Altrocker Lou Reed, die Folksängerin Joan Baez, die Chansonsängerin Suzanne Vega und die amerikanische Sopranistin Renee Fleming. Erstmals lenkt auch der amtierende Präsident Vaclav Klaus seine Schritte in den Kirchenbau, den er bislang gemieden hatte.
Klaus’ Auftritt wird zu Beginn von „Pfui”- und „Schande”-Rufen aus dem Publikum begleitet. Hintergund dessen ist der seit Jahren zwischen Klaus und Havel geführte Streit darüber, wer die Grundlagen für die Samtrevolution 1989 in der damaligen Tschechoslowakei gelegt habe. Für Klaus waren das die „gewöhnlichen Menschen mit ihrer Passivität”. Damit sprach Klaus aber auch den Dissidenten um Havel die Rolle als wichtigste Protagonisten ab. Die Reaktion des Publikums in der Kirche kommt denn auch nicht überraschend. Klaus springt dennoch über seinen Schatten und betont: „Bei allem Streit ist für mich eines klar: Die Geschehnisse von 1989 sind vor allem mit einer Person verbunden – der meines Amtsvorgängers Vaclav Havel. Ich möchte die Gelegenheit benutzen, um ihm für alles zu danken, was er für die Wiedererlangung der Freiheit in unserem Land getan hat.” Diese Worte werden mit starkem Applaus begrüßt, der freilich Havels Verdiensten galt, weniger den Worten von Klaus. Zumal sich Klaus in seiner Rede kurzerhand unter jene einordnete, die 1989 die Revolution gemacht hätten. Die Anwesenden freilich wissen das besser. Klaus erlangte erst Bedeutung nach der Revolution, als er zu den Dissidenten mit einem fertigen Plan für die Umgestaltung der Wirtschaft von der Plan- zur Marktwirtschaft kam. In den Tagen der Revolution selbst standen andere auf der Barrikade.
Während des Gala-Konzerts werden Videobotschaften von Barack Obama, Angela Merkel, Michail Gorbatschow, dem Dalai Lama, aber auch von Künstlern wie Mick Jagger, Bob Geldof, Bono Vox oder Peter Gabriel gezeigt. Alle würdigen den friedlichen Charakter der Samtrevolution, die eine Inspiration gewesen sei.
Die Presse begrüßt die Wertschätzung Klaus’ gegenüber Havel. Zbyněk Petráček lobt in der konservativen Tageszeitung Lidové Noviny: „Es ist wahr, dass die kommunistische Doktrin schon lange vor dem 17. November tot und die kommunistische Macht schwach war und die Menschen aufhörten, sie zu fürchten. Aber es ist nicht wahr, dass die Dissidenten an ihrer Beseitigung nicht den Löwenanteil hatten. Klaus hat jetzt die individuelle Rolle Havels anerkannt, was gut ist. ... Doch die Realität ist vielschichtiger: Die tschechoslowakischen Dissidenten haben das Regime nicht besiegt, sie gaben aber dem Sieg und den 20 Jahren, die wir jetzt bilanzieren, ihr Gesicht ... . Bei der Ausübung der Macht versagten sie, ... doch es wäre zu einfach, das Ethos zu vergessen, das sie der Gesellschaft einpflanzten.“
Die Öffentlichkeit aber nimmt Klaus die Lobpreisung nicht ab. Als Klaus am 17. November an der Gedenktafel für den Marsch der Studenten in der Nationalstraße von Prag Blumen niederlegt, empfangen ihn neuerlich verbale Proteste. Die richten sich jedoch auch gegen die lange Verzögerungstaktik des Präsidenten vor seiner Unterschrift unter den EU-Reformvertrag von Lissabon. Auf der anderen Seite sind auch Unterstützer des Präsidenten in die Nationalstraße gekommen. Klaus selbst versucht den Spieß umzukehren: „Die Pfiffe gegen mich sind ein Ausdruck der Demokratie.“ Es sei ein großer Sieg, dass es heute möglich sei, die Stimme gegen den Präsidenten zu erheben. Klaus kommt zugleich noch einmal auf das Konzert Havels zurück. Das sei „ohne Freude“ über die Bühne gegangen. Dabei habe es schließlich etwas zu feiern gegeben. „Ich hatte aber den Eindruck, dass ich am falschen Platz war. Dort herrschte ein Gefühl der Frustration und der schlechten Laune.“ Klaus kritisiert zudem die Art und Weise, in der in Berlin des Falls der Mauer gedacht wurde. Es habe ihn gestört, dass dort der Fall der Mauer gefeiert wurde, nicht der Fall des Kommunismus. Namentlich störe er sich daran, dass in Berlin auch der russische Präsident Medwedew geredet habe. „Wenn ich den nach Prag eingeladen hätte, dann hätte ich eine neue Revolution und womöglich einen neuen Prager Fenstersturz ausgelöst.“
Während Klaus den Feiernden in Prag schlechte Laune attestiert, sehen Beobachter ein ganz anderes Bild. Zehntausende jubeln beispielsweise am Abend des 17. November in der Prager Nationalstraße Vaclav Havel zu, als der zu Beginn eines Rockkonzertes gemeinsam mit Joan Baez auf der Bühne erschien. Ganz Prag scheint neuerlich einer Havelmanie zu unterliegen. In einer Umfrage nach der Persönlichkeit der Revolution und der nachrevolutionären Jahre in Tschechien, die von einer Zeitung in Auftrag gegeben worden war, läuft Havel Klaus klar den Rang ab.
Im Umfeld des Jahrestages des Beginns der Samtrevolution gehen noch einmal nahezu ohne Pause die Bilder jener Tage über die Bildschirme der Fernsehstationen. Die Zeitungen bringen Sonderveröffentlichungen, die an die Tage der Revolution erinnern. Und noch einmal Havel: In einer Fernsehansprache zieht er Bilanz seit 1989 und macht sich Gedanken darüber, wie Tschechien in weiteren 20 Jahren aussehen werde: „Werden wir in den kommenden 20 Jahren weiter vorankommen? Ich glaube ja. ... Vor 20 Jahren habe ich gesagt, dass unser Land nicht blüht. Das könnte ich heute nicht sagen. Aber es blüht häufig sehr seltsam. ... Wir ziehen keine Lehren, wiederholen jene Fehler, die andere längst begangen haben. Wir wollen ein Spiel spielen, fürchten uns aber davor, Spielregeln aufzustellen. Der Anstand nimmt ab, es wird gestohlen, und wenn jemand sagt, dass man nicht stiehlt, wird er ausgelacht. ... Im Jahre 2029 werden wir weiter sein.“
Zahlreich sind die Umfragen, die die Zeitungen in den Tagen um das Jubiläum der Samtrevolution unter Prominenten veranstalten. Beispielhaft das, was sich am 18. November in der Wirtschaftszeitung Hospodarske Noviny zum Zustand Tschechiens 20 Jahre nach der Samtrevolution findet: Pavel Rychetsky, Vorsitzender des Verfassungsgerichts: „Am meisten stört mich der geistige Zustand und das Niveau des Anstands der Gesellschaft, die nicht weit von der völligen Devastierung entfernt sind.“ Die Dokumentarfilmerin Helena Trestikova meint: „Mich stößt das Misstrauen ab, dass unter den Politikern herrscht.“ Martin Jahn, der Chef von VW-Skoda in Russland: „Am meisten stört mich, welches Bild wir in der EU abgeben. Tschechien als eine kleine und offene Ökonomie inmitten Europas wird immer sehr vom Export und ausländischen Investitionen abhängig sein. Unsere nationalen Interessen schützen wir nur dann wirklich, wenn wir in Europa eine gefestigte und respektierte Position haben.“ Das ehemalige Model Tereza Maxova sagt: „Obwohl ich eine große Patriotin bin, die nichts auf ihr Land kommen lässt, stört mich der Zustand der politischen Kultur, respektive die Unkultur. Was kann man da tun? Man muss sich mehr engagieren, darf sich nicht fürchten, eine eigene Meinung zu äußern.“ Der frühere Fußball-Europameister Antonin Panenka sagt: „Es ärgert mich, dass viele Leute vergessen haben, wie es früher gewesen ist. Daran muss mehr erinnert werden, sei es in den Schulen oder in den Medien.“ Der Filmregisseur Jan Hrebejk äußert sich so: „Am schlimmsten ist die allgegenwärtige Korruption. Die größte Schuld daran trägt Vaclav Klaus. Allgemein würde ich sagen: Der Kapitalismus ist hundertmal besser als der Sozialismus, aber um vieles schlimmer, als ich erwartet hatte.“