Polen

Erinnerungskultur 2.0 – Ein Holocaust-Opfer auf Facebook

(n-ost) – „Ich heiße Henio Żytomirski. Ich bin sieben Jahre alt. Ich wohne in der Szewska Straße 3 in Lublin“, so schreibt der kleine Junge auf seinem Profil. Daneben ein kleiner Junge in kurzen Hosen und einem schneeweißen Hemd, schwarze Haare, dunkle Augen, verschmitzter Blick. Es könnte ein normales Facebook-Profil sein. Aber Henios Geburtsdatum ist der 25. März 1933. Älter als sieben oder acht Jahre ist er nicht geworden. Er wurde von den Nazis in einem Konzentrationslager getötet, weil er Jude war.


Das letzte Bild von Henio: mit sieben Jahren kurz vor Kriegsausbruch. Foto: Kulturzentrum „Brama Grodzka“ Lublin

„Henio ist seit dem 18. August 2009 bei Facebook. An diesem Tag habe ich seinen ersten Eintrag geschrieben“, sagt Piotr Buzek. Der 22-Jährige arbeitet im Lubliner Kulturzentrum „Brama Grodzka“. Er hat Henio virtuell wieder zum Leben erweckt, denkt sich in seine Gefühlswelt hinein und schreibt, wie Henio es hätte tun können. „Wir haben hier im Zentrum viele Informationen über Henios Leben gesammelt. Ich habe dann versucht mir vorzustellen, wie dieser kleine Junge die Welt um sich herum erlebt haben könnte.“ Vielleicht so, wie er es am 29. September 2009 auf Facebook beschreibt: „Der Winter ist gekommen. Jeder Jude muss seinen Nachnamen auf einem David-Stern tragen. Viel hat sich geändert. Auf der Straße laufen deutsche Truppen. Mama sagt, dass ich mich nicht fürchten soll, dass alles immer gut wird. Immer?“

Mehr als 1800 Freunde hat Henio mittlerweile im virtuellen Netzwerk. Und täglich kommen mehr hinzu. Henio chattet nicht mit ihnen, er schreibt nur kurze Sätze über sein Leben. Was er schreibt, kommentieren seine Freunde – einfühlsam und ehrlich. Sie erklären ihm, was Krieg bedeutet. Antworten ihm, wenn er ganz kindlich fragt, warum die Leute Briefe schreiben. Und manchmal müssen sie eingestehen, dass es für manche Dinge eben keine Erklärung gibt. Henio am 5. Oktober 2009: „Opa sagt, dass der Krieg bald aufhört. Er sagt, dass die Soldaten ja auch Familien haben. Wie ist das möglich? Sie haben Familien, aber töten Familien.“ Seine Internet-Freundin Irena antwortet ihm mit der Erklärung: „Sie haben kein Herz.“


Henio bei der Feier zu seinem zweiten Geburtstag. Foto: Kulturzentrum „Brama Grodzka“ Lublin

Das Lubliner Kulturzentrum rekonstruiert seit 18 Jahren das jüdische Leben der Stadt östlich von Warschau. Einst wohnten dort mehr jüdische Bewohner als christliche. Im kommunistischen Polen kümmerte sich kaum jemand um diese Vergangenheit, sie war fast vergessen. Tomasz Pietrasiewicz, Leiter des Zentrums „Brama Grodzka“, ist erst nach der politischen Wende auf die reiche jüdische Geschichte seiner Stadt gestoßen. „Und ich habe mich dann gefragt, wie das sein kann, dass ich so viele Jahre hier lebe und nichts über die Juden hier weiß. Warum hat mir das keiner gesagt, dass es hier einen jüdischen Stadtteil gab?“

Dort, wo das Kulturzentrum heute steht, befand sich einst das Tor zwischen dem jüdischen und dem christlichen Stadtteil. Tomas Pietrasiewicz und seine Mitarbeiter suchen nach Schicksalen, nach Geschichten, nach Erinnerungen. So sind sie auch auf Henio gestoßen. „Vor ein paar Jahren kam eine Verwandte von Henio aus Israel nach Lublin. Sie brachte uns ein Album mit Bildern von Henio – jedes Jahr hatte man ihn fotografiert. Auf der ersten Seite war er ein Jahr alt war, das war 1933. Das letzte stammt aus dem Jahr 1939, kurz vor seiner Einschulung. Dann schlägt man noch eine Seite um, und da ist kein Bild mehr.“


Henio mit seiner Familie 1937.  Foto: Kulturzentrum „Brama Grodzka“ Lublin

Die Bilder aus dem Foto-Album sind digitalisiert und auf der Internetseite des Zentrums zu sehen. Dort kann man Henios Familiengeschichte auf Polnisch, Englisch und Hebräisch lesen. Das Internet ist längst ein alltägliches Medium für das Kulturzentrum. Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg verändert sich zusehends – denn es gibt immer weniger Zeitzeugen. Trotzdem ist der persönliche Zugang zur Geschichte des Krieges und des Holocausts sehr wertvoll. Das wissen auch die Mitarbeiter des Zentrums und versuchen deshalb, persönliche Schicksale ins Netz zu stellen.

„Wir wollten auf innovative Weise Geschichte vermitteln und mit Henios Geschichte eine neue Zielgruppe erreichen“, sagt Piotr Buzek. Zu dieser neuen Zielgruppe gehört der junge Mann selbst. Es ist die Generation, die mit dem Internet groß geworden ist und die weit weg ist von den Ereignissen des Holocausts. Henio erinnert auf kindliche Weise an diese Zeit: „Heute habe ich beschlossen, nie wieder aus Lublin wegzugehen“, schreibt Henio am 11. Oktober 2009. „Ich werde für immer hier bleiben an meinem Lieblingsplatz. Mit Mama und Papa. In Lublin.“

Piotr Buzek ist überzeugt, damit die junge Generation zu erreichen. Die Besucherzahlen auf Facebook geben ihm Recht. Und er hofft, dass Henios Einträge die Welt besser machen und so etwas wie der Holocaust nie wieder passiert. Henio und seine Familie wurden nach Kriegsbeginn von der Szweska Straße ins Ghetto umgesiedelt. Später kamen er und sein Vater in das Konzentrationslager Majdanek bei Lublin. Dort endete Henios kurzes Leben.


ENDE


Nachdruck und Weiterverwertung dieses Artikels sind kostenpflichtig. Informationen im n-ost-Büro unter (030) 259 32 83 – 0


Weitere Artikel