Polen

Das älteste Kino der Welt trotzt Multiplexen

Die Luft ist stickig, die Leuchtstoffröhre gibt nur wenig Licht und im Hintergrund rattern hörbar die Projektoren – der Arbeitsplatz von Miraslaw Goski zählt auf den ersten Blick nicht zu den attraktivsten Jobs. „Ich mag meine Arbeit“, kontert der 44-jährige Filmvorführer des Kinos „Pionier“ aus dem westpolnischen Stettin (Szczecin). Die Projektorenkabine kann er nur selten verlassen, um die Filmspulen zu wechseln muss er oftmals Hand anlegen. Die Projektionstechnik von „Kino Pionier“ entspricht nicht dem gleichen Stand wie in den modernen Multiplex-Kinos, die in Polen in allen großen Städten wie Pilze aus dem Boden schießen. Dafür punktet es mit einer Besonderheit: Es ist das älteste Kino der Welt.

Eintrag im Guiness-Buch der Rekorde

Eigentümer Jerzy Miskiewicz zeigt voller Stolz den Eintrag im Guinness-Buch der Rekorde aus dem Jahr 2005. „Das älteste Kino der Welt ist das Kino Pionier“, steht auf der Urkunde, deren vergrößerte Kopie auch im Eingangsbereich des Lichtspielhauses hängt und auf die Eröffnung 1909 hinweist. Miskiewicz präzisiert: „Wir sind das älteste Kino, das immer betrieben wurde.“ Alle anderen, die das gleiche behaupten, waren zwischenzeitlich geschlossen, lautet Miskiewicz' Seitenhieb gegen diejenigen, die sich mit dem gleichen Titel rühmen. Etwa in Dänemark, wo ein Lichtspielhaus schon 1907 in Betrieb gegangen sein soll. Doch eigentlich sei das „Pionier“ ebenfalls schon 1907 eröffnet worden, den Nachweis will Miszkiewicz noch erbringen.


Jerzy Miskiewicz ist Eigentümer vom „Kino Pionier“ und hat sich den Status als ältestes Kino der Welt 2005 ins Guiness-Buch der Rekorde eintragen lassen / Markus Nowak, n-ost
 
Dass ausgerechnet das älteste Kino der Welt zwischen Oder und Bug steht, ist verwunderlich. In vielen polnischen Städten stehen solche kleinen Lichtspielhäuser leer, da die Zuschauer lieber in modernen Multiplex-Kinos auf die Leinwand schauen. In der Nachbarschaft des „Pionier“ hat es das „Kosmos“ getroffen, das seit langem nicht mehr genutzt wird. Es war ein typisches Lichtspielhaus, wie es in den 60er und 70er Jahren in den Ostblockstaaten gebaut wurde. Grund für den Leerstand: Ein neues Multiplex hat vor kurzem nur wenige hundert Meter Luftlinie entfernt eröffnet, mit neun Sälen und über 2.000 Sitzplätzen, eingebettet in eine moderne Shopping-Mall. Was in der Oderstadt passiert, ist typisch für Polen – von Breslau, Danzig über Warschau bis Krakau – es geschieht so etwas wie eine „Kino-Gentrifizierung“.
 
Kleine Kinos schließen

Rund 70 Multiplex-Kinos, überwiegend in Shopping-Centern, sind zwischen Oder und Bug in Betrieb. Nachdem alle Städte mit mehr als 200.000 Einwohnern bereits über mindestens ein Mehrsaal-Lichtspielhaus verfügen, investieren die Kinobetreiber nun auch in erste Mittelstädte wie das grenznahe Zielona Gora (Grünberg). Von einem regelrechten Multiplex-Boom in den letzten fünf Jahren, berichtet Iwona Kuznik, Sprecherin des größten Kinobetreibers „Cinema City“. Die israelisch-holländische Gesellschaft alleine hat 27 Kinos in allen Großstädten Polens mit sechs bis 17 Leinwänden pro Lichtspielhaus im Betrieb. Im November plant der Branchenprimus einen polnischen Rekord: Im südpolnischen Krakau soll ein „Megaplex“ eröffnen, in dem den Besuchern dann 20 Kinosäle zur Wahl stehen.
 
Eine begrenzte Auswahl haben dagegen die Cineasten im Stettiner „Pionier“, das dem Trend trotzt. Zwei Leinwände hat das Lichtspielhaus: Eine im ursprünglichen, (wohl) vor genau 100 Jahren eröffneten Kinosaal mit 82 Plätzen, eine weitere im Kinocafé „Kiniarnia“, mit Tischen und nur halb so vielen Sitzplätzen. Außerdem unterscheiden sich die Filme im „Pionier“ von denen in den Multiplex-Kinos, wie Miskiewicz weiß. „Wir spielen über 70 Prozent europäische Filme, keine Blockbuster.“ Sein Publikum bevorzuge anspruchsvolle Unterhaltung.
 
Höhere Erwartung an die Filmkunst
 
Genau darin sieht auch Anna Godzisz vom Polnischen Institut der Filmkunst (PISF) die Besonderheit der 22 in Polen im Programmkino-Netzwerk „Europa Cinemas“ organisierten Lichtspielhäuser, zu denen auch das „Pionier“ zählt. „Die Zuschauer haben eine höhere Erwartung an die Filmkunst“, sagt die PISF-Filmexpertin Godisz. Ihr Institut unterstützt Programmkinos und dutzende kleine Filmtheater, die etwa in Bürgerhäuser arbeiten, bei der Anschaffung von neuem Equipment.
 

Der historische Kinosaal umfasst 82 Sitzplätze und ist 100 Jahre alt / Markus Nowak, n-ost

Neuste Technik, bequeme Sessel und die neusten Blockbuster – das sind nach „Cinema-City“-Sprecherin Iwona Kuznik die Gründe, wieso sich die Mehrheit der polnischen Kinogänger für die Multiplexe entscheidet. Der Markt wird vor allem von wenigen Kinobetreibern beherrscht. Allein die drei größten Kinoketten „Cinema City“, „Multikino“ sowie „Helios“ ziehen 75 Prozent der Kinogänger an. Einer Statistik des polnischen Filmisntituts zufolge wurden 2008 rund 33,75 Millionen Kinokarten verkauft. „Die Besucherzahlen in den polnischen Kinos stiegen im vergangenen Jahr auf ein Rekordniveau“, sagt Anna Godzisz vom Filminstitut. Doch bei einer Bevölkerung von rund 38 Millionen ergibt das im Mittel weniger als einen Kinobesuch pro Jahr und Einwohner. In Deutschland sind es doppelt so viele Besuche pro Person und Jahr.

Miskiewicz, der Betreiber des ältesten Lichtspielhauses der Welt, sieht in den Multiplex-Kinos überhaupt keine Konkurrenz, schon wegen der anderen Klientel. Für die Zukunft seines seit 100 Jahren bestehenden Lichtspielhauses lautet das Konzept Profilschärfung. Daher komme ein Umstieg auf Digitalprojektoren derzeit nicht in Frage, das würde das Repertoire schmälern. Filmvorführer Miraslaw Goski wird so schnell weder seinen Arbeitsplatz los noch das Rattern im Projektionsraum.


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