Die politischen Symptome der Schweinegrippe
Panik oder tatsächliche Epidemie? Schutzmasken, geschlossene Grenzen und Quarantänezonen – das ist die eine Seite des Ausbruchs der Schweinegripe in der Ukraine. Ein unpopulärer Präsident, der mitten im Präsidentschaftswahlkampf endlich wieder ein Thema bei der Hand hat, mit dem er punkten kann, und ein Machtstreit zwischen den ukrainischen Behörden – das ist die andere Seite. Und so gehen die Meinungen darüber, wie schlimm es tatsächlich bestellt ist um die Ukraine, weit auseinander.
Eines kann man wohl sagen: Es herrscht Chaos und die Führung in Kiew unternimmt wenig, um zu beruhigen. Präsident Viktor Juschtschenko spricht von geschätzten 250.000 H1N1-Fällen und bereits 80 Toten in der Ukraine. Ein Sprecher der Gesundheitsbehörde trat mit der Meldung an die Öfentlichkeit, drei von 14 bestätigten Infizierten seien gestorben. Eine Epidemie gebe es aber nicht. Die Grippewelle hat das wirtschaftlich danieder liegende Land voll erfasst – vor allem medial.
Die ukrainischen Fernsehzuschauer bleiben dabei mit der Frage zurück: Was tun mit den öffentlichen Informationen, wie Umgehen mit den Nachrichten? Letztlich sind in der Ukraine laut Weltgesundheitsorganisation lediglich 12 Fälle einer Infektion mit dem H1N1-Virus und ein Todesfall bestätigt. Alle darüber hinaus gehenden Zahlen spiegeln Hochrechnungen wieder, wie auch ein Sprecher der Weltgesundheitsorganisation bestätigt. Er spricht von einer "Wahrscheinlichkeit", dass es sich bei Tausenden gemeldeten Grippefällen auch tatsächlich um Infektionen mit dem H1N1-Virus handle.
Klar ist: Der Ukraine fehlt die Möglichkeit flächendeckender Tests. Es fehlt an Medikamenten, um selbst einer gewöhnlichen Influenza-Epedemie Herr zu werden. "Keine Frage", so eine Mitarbeiterin des Katastrophenschutzministeriums, "die Lage ist ernst – welches Virus auch immer da umgeht".
Die Gegenmaßnahmen der Behörden sind umfassend und drastisch. Im Westen der Ukraine wurden Bezirke unter Quarantäne gestellt, Atemschutzmasken werden verteilt, die Schulen in betroffenen Landesteilen sind geschlossen. Mitten im Wahlkampf wurden Massenveranstaltungen untersagt. Von einer möglichen Verhängung des Notstands ist die Rede. Die Regierung hat die internationale Gemeinschaft um Hilfe gebeten.
Es gibt allerdings auch Stimmen in der Ukraine, die dem panischen Treiben der Behörden mit Unglauben begegnen und die derzeitige Krise für eine geeignete Wahlkampfbühne halten. Im Januar wird in der Ukraine ein neuer Präsident gewählt. Der amtierende Staatschef Viktor Juschtschenko liegt in Umfragen weit abgeschlagen bei drei bis sechs Prozent hinter Premierministerin Julia Timoschenko (20 Prozent) und Oppositionsführer Viktor Janukowitsch (ca. 27 Prozent).
Panik müsse der Regierung nicht unbedingt schaden, drückt es die Journalistin Tatjana Kremen vorsichtig aus. Zweifel haben Beobachter vor allem an der angegeben Zahl von 250.000 Infizierten. Alle Nachbarländer der Ukraine zusammen kommen auf 18.000 Fälle. Warum sollte die Ukraine also derart stark betroffen sein? Andererseits liegt die Verbreitung eines Viruses in einer derartigen Welle laut WHO durchaus im Bereich des Möglichen.
Vor allem Oppositionsführer Janukowitsch kommt ungelegen, dass seine für diese Tage anberaumte Wahlkampfoffensive mit einer Reihe von Masseneranstaltungen wegen der Schweinegrippe untersagt wurde – während Timoschenko und Juschtschenko medienwirksam Medikamentlieferungen entgegen nahmen, Krankenhäuser besuchten oder die Produktion von Atemschutzmasken in Auftrag gaben. Gegner von Regierung und Präsident jedenfalls sprechen von einer Einschränkung der Bürgerrechte durch Versammlungsverbote. Sie warnen davor, den Notstand auszurufen und danach eventuell sogar die Präsidentenwahl auszusetzen.