Die Welt am Schnürchen
Die Maschine rattert. Rózsa Társi stanzt Löcher in blau-weiß-gestreifte Oberhemden und umnäht sie. Eins nach dem anderen. Immer neun Stück pro Hemd. Die dralle Ungarin arbeitet im Akkord, seit 6 Uhr morgens. „Das ist für heute mein Hemd Nummer 300”, sagt sie am Nachmittag. Und es werden wohl noch einige werden an diesem Tag, denn am nächsten Tag ist Auslieferung.
Alle zwei Wochen verlassen die kleine Halle der Firma „Alexico Kft.” in der ostungarischen Kleinstadt Túrkeve bis zu 25.000 Polo-Shirts, Schürzen und Mützen mit dem McDonalds-Logo in Richtung München. Von dort wird die Dienstuniform der Schnell-Restaurant-Mitarbeiter dann weiter verteilt. Nahezu jeder McDonalds-Mitarbeiter in Europa trägt die Kleidung, die in Ostungarn genäht wird, einer Region, wo die Arbeitslosigkeit hoch und die Löhne noch niedrig sind.
Schichtleiterin Ildikó Hagymási bei der Arbeit. Foto: Stephan Ozsváth
Rózsa Társi wird pro Stück bezahlt. Je mehr Hemden sie mit Knopflöchern versieht, desto besser für sie. „Am Ende des Monats komme ich so auf meine 90.000 Forint”, sagt sie. Das sind umgerechnet 360 Euro. Seit 1973 macht sie das tagaus, tagein. Alle zwei Stunden kann sie mal zehn Minuten verschnaufen. „Viele denken: Das ist ein ganz einfacher Job – einfach nur dasitzen und nähen”, sagt Schichtleiterin Ildikó Hagymási, die die Manschetten an die Hemden näht. „Aber das ist ziemlich monoton. Und es geht aufs Kreuz, auf die Augen, auf die Gelenke.” Der Beruf der Näherin ist deshalb auch nicht gerade beliebt, gibt Managerin Ildikó Kun zu. „Sie müssen präzise sein, Qualität liefern. Dann die Überstunden. Das ist ein großer Druck, der auf den Angestellten lastet.”
Inhaber Richard Schubert sieht das etwas anders. Er muss seine Kunden zufrieden stellen. Und er möchte Geld verdienen – trotz gestiegener Produktionskosten. Also müssen die Leute in seiner Fabrik mehr ranklotzen. Das widerspreche allerdings ihrer Mentalität, glaubt der Unternehmer. Die Volksgruppe der Kumanen gilt als besonders stures Völkchen. „Die Leute sind in einem Winterschlaf und glauben, dass es noch Planwirtschaft gibt”, schimpft der 55-jährige Ungar.
„Die Gehälter nehmen sie als selbstverständlich an, sie sind nicht besonders motiviert“, urteilt er über seine Angestellten in Túrkeve. Um den Wettbewerb im Betrieb etwas anzukurbeln und die Aufträge besser abarbeiten zu können, hat er zwei insolvente Nähereien in der Umgebung aufgekauft. „In Kunhegyes produzieren wir die roten Polos, die McDonalds-Mitarbeiter in ganz Europa tragen”, sagt er und zeigt auf ein Modell neben der Eingangstür. „10.000 Stück. Jeden Monat.”
Anfang der 90er Jahre hat der Donauschwabe Richard Schubert aus Budapest die Näherei im 10.000-Einwohner-Städtchen aufgebaut. Ein Kompagnon machte ihn auf die günstige Immobilie aufmerksam. „Das war vorher die Betriebskantine einer großen LKW-Werkstatt, in der 1300 Leute gearbeitet haben”, erzählt Schubert und deutet auf die Durchreiche, hinter der jetzt frisch gebügelte Hemden auf der Stange hängen. „Da hinten haben sie früher Gulasch zum Mittag ausgegeben.” Die Angestellten reparierten die LKWs der russischen Besatzer und die IFA-50-Lastwagen der DDR. Nach der Wende ging der Betrieb pleite. „Nahezu jeder verlor seinen Job und musste gehen”, erinnert sich Managerin Ildikó Kun.
Und Richard Schubert kam. Er übernahm „Alexico Kft.” Eigentlich ist er Gastronom. In München hat er Anfang der 80er Jahre – nach der Flucht aus Ungarn über Prag – Restaurants betrieben. „Ich kam buchstäblich mit zwei Koffern dort an. Die Banken gewährten mir einen Kredit von 200.000 Mark für mein erstes Restaurant”, erzählt der Unternehmer, „ohne jede Sicherheit. Das wäre heute unmöglich.”
Der Weg von der eigenen Restaurant-Küche zur Schürze war nicht weit. „Im Großhandel, wo ich meine Sachen für die Restaurants eingekauft habe, fragte mich jemand, ob ich Nähbetriebe in Ungarn kenne, und so bin ich zu dieser Sache gekommen.” Damit macht Richard Schubert mittlerweile 1,25 Millionen Euro Jahresumsatz. Und fast 150 Leute haben einen seltenen Luxus in der strukturschwachen Region: einen regelmäßigen Job. Doch alle wissen auch: Die Chinesen können es noch billiger. Obwohl die Qualität ihrer Arbeit bezweifelt wird.
Eszter Kérdö vor ihrem Modeladen in Berlin. Foto: Stephan Ozsváth
Eszter Kérdö macht da ganz andere Erfahrungen. Gerade ist sie von einer Reise nach China zurückgekehrt. Die 35-jährige Ungarin aus der Nähe von Szeged hat sich im Reich der Mitte nach Nähereien umgeschaut. Sie will Produktionskosten senken. Derzeit lässt sie im südungarischen Hódmezövásarhely produzieren, und in Polen. „Ich habe es auch schon mit Näherinnen in Brandenburg und Berlin probiert”, sagt die Mutter einer zweieinhalbjährigen Tochter. „Aber es geht nicht.” 15 Euro Stundenlohn seien zuviel. Damit müsste sie in ihrem Laden in Berlin-Mitte die Preise erhöhen. Das wolle sie nicht.
Eszter Kérdö stemmt die Arme energisch in die Hüften. In ihrer kleinen Boutique in der Berliner Auguststraße verkauft sie Mode. Vieles hat sie selbst entworfen. „Ich verkaufe hier ungarische Designer, einige Berliner Designer, meine Hausmarke ist „Frenetics“, und natürlich habe ich auch andere Designer wie Kookai. Das wird sehr nachgefragt“, sagt sie und greift zum Telefonhörer, um Absprachen mit der ungarischen Kindertagesstätte im Szenebezirk Prenzlauer Berg zu treffen, wo ihre Tochter gerade ist.
Wenn Eszter Kérdö nach Ungarn fährt, zu ihren Eltern, schickt sie ihre Tochter in eine Kita vor Ort. „Das ist der Kindergarten, in den ich schon gegangen bin“, erklärt sie. Ihr Kind soll auch in Ungarn Wurzeln schlagen. Ihre eigene Mode-Linie „Frenetics“ lässt Estzer Kérdö in ihrer alten Heimat herstellen. Wo, will sie nicht verraten. „Danach habe ich solange gesucht und die Konkurrenz ist groß in dem Geschäft“, erklärt sie ihre Geheimniskrämerei. Ihre Kleider, Röcke, Blusen, Jacken, Accessoires in Ungarn nähen zu lassen, ist offenbar ein Wettbewerbsvorteil.
Röcke mit geometrischen Applikationen hängen in der kleinen Boutique, schrille Häkelmützen liegen aus, hippe Taschen, sie kombiniert auch schon mal Rüsche mit schlichter Eleganz. „Ich habe das schon als Jugendliche gemacht”, erzählt sie. „In den 80er Jahren war die Mode in Ungarn nicht so berauschend, also habe ich für mich selbst geschneidert - vor allem Kleider für festliche Anlässe.“
In Szeged lernte sie Textildesign, Ende der 90er Jahre kam sie nach Berlin, dank eines Stipendiums der Universität der Künste. Die Stadt kannte sie schon durch einen Onkel, der dort als Schuhmacher lebte. „Der hat immer Postkarten geschickt”, erzählt sie. “Vieles habe ich sofort wiedererkannt.” Mit einem Kommilitonen aus Ungarn hatte sie schon in Budapest ein Geschäft aufgezogen. Vor fünf Jahren eröffnete sie in Berlin ihre eigene Boutique “Plánetick – Berlin – Budapest.”
„Ich möchte gern Sachen herstellen, in denen die Leute sich wohlfühlen“, sagt sie. Ihr Ziel: „Sie ziehen es an und sagen: Das steht mir.“ Das sagt die junge Ungarin über ihre Motivation, trotz ihres Kindes ganze Tage im Geschäft zu verbringen. Dass es die Boutique schon seit fünf Jahren gibt, sei der Beleg dafür, dass der Laden ganz gut läuft. „Hier gibt es interessante Sachen, die man sonst nirgendwo sieht”, pflichtet ihr eine Kundin bei, die gerade einen Rock mit großen runden Applikationen für einen Hunderter erstanden hat. „ Das ist keine Null-Acht-Fünfzehn-Mode”, so ihr Urteil.
Das soll auch so bleiben. Deshalb will Eszter Kérdö gleichbleibende Qualität liefern. „Und das ist in Ungarn mittlerweile schwierig”, sagt Kérdö. „Denn dort kann man nur noch einfache Blusen nähen lassen – Sachen, für die man nur ein Stück Stoff, Nadel und Faden braucht”. Bei aufwendigeren Kollektionen kämen die ungarischen Näherinnen rasch an ihre Grenzen.
„Viele denken offenbar noch wie früher”, glaubt Kérdö. Gift für jemanden, der von sich selbst sagt: „Ich habe ständig neue Ideen”. Und so inspiziert sie alternative Produktionsstätten, guckt den Näherinnen auf die Finger: in Ungarn, in Polen, in China. Immer wieder. Und sie ist sehr überzeugt: „Ohne Globalisierung geht es nicht”.