Die Krallen von Mütterchen Prag
Sie würde es genauso wieder machen. Kristin Vogelbein sitzt in einem Gartenrestaurant, trinkt einen Kaffee und blickt zufrieden auf das Menschentreiben auf dem kleinen Platz im Prager Stadtteil Smíchov, wo sie heute wohnt. Vor dreieinhalb Jahren ist sie von Deutschland nach Tschechien gegangen, um dort zu arbeiten. Der klassische Weg von Arbeitsmigration wäre wohl andersherum gewesen: Menschen aus den Ländern des ehemaligen Ostblocks suchen Arbeit im Westen, weil die Löhne dort höher sind. Kristin ist nach Tschechien gegangen, obwohl sie dort deutlich weniger verdient als bei einer vergleichbaren Arbeit in Deutschland. „Dafür habe ich aber Arbeit. In Deutschland habe ich nichts gefunden. Hier hat es sofort geklappt“, erklärt sie.
Mütterchen Prag hat seine Krallen auch nach Kristin ausgestreckt. Foto: Andreas Wiedemann
Kristin ist 33 Jahre alt und kommt aus Thüringen. Erfahrungen in Tschechien hat sie bereits früher gesammelt. 1997 leistete sie für die „Aktion Sühnezeichen Friedensdienste“ einen Dienst in Terezin / Theresienstadt. Während ihres Soziologie-Studiums war sie für zwei Semester an der Karlsuniversität in Prag. Die Sprache hat sie während ihrer Aufenthalte in Tschechien gelernt. Nach Beendigung der Uni suchte die Diplom-Soziologin in Deutschland lange, vor allem aber vergebens nach Arbeit. „Meine Arbeitssuche hat sich über zwei Jahre erstreckt. Zuerst war ich arbeitslos, dann habe ich eine Umschulung gemacht und zahlreiche Bewerbungen geschrieben, aber darauf eigentlich nur Absagen erhalten.“ Dann absolvierte sie einige Praktika. Schließlich arbeitete sie für die Messevertretung von Brünn in München, „das war aber sehr schlecht bezahlt“.
Ein Bekannte, die bei Siemens in Prag arbeitet, rief sie eines Tages an und gab ihr den Tipp, sich bei Siemens in Tschechien zu bewerben. Dann ging alles ganz schnell. Nach einem Vorstellungsgespräch bei Siemens in Prag erhielt sie gleich zwei Angebote. „Das war unglaublich. In Deutschland hat sich zwei Jahre lang fast nichts getan, und in Prag war es im Grunde genommen so einfach“, erinnert sich Kristin. Seit dreieinhalb Jahren arbeitet sie nun schon bei Siemens-Schienenfahrzeuge in Prag-Zličín. Hier werden u.a. U-Bahn- und Eisenbahnwaggons gebaut. Kristin war zunächst Assistentin im IT-Bereich. Jetzt arbeitet sie im Einkauf für die Waggonfertigung.
Die Freude über die gefundene Arbeit war größer als der anfängliche Schock über ihr Einstiegsgehalt. Angefangen hat Kristin mit einem Grundgehalt von 13.000 Kronen (rund 520 Euro) netto. „In Deutschland hätte ich wohl genauso viel Arbeitslosengeld bekommen. Aber mir war wichtiger, überhaupt eine Arbeit zu haben.“ Ihr Gehalt ist in der Zwischenzeit deutlich gestiegen. Netto bekommt sie monatlich jetzt 25.000 Kronen (rund 1000 Euro) und liegt damit über dem tschechischen Durchschnittsgehalt. In Deutschland wäre der Verdienst bei vergleichbarer Tätigkeit zwar höher, aber Kristin betont, dass sie dort eine solche Arbeit als Soziologin gar nicht erst bekommen hätte: „Ich habe mich in Deutschland auch bei großen Firmen beworben, aber vergebens. Als Quereinsteiger hat man in Deutschland kaum eine Chance. In Tschechien ist das viel flexibler.“
In Prag ist alles viel flexibler, sagt Kristin Vogelbein. Foto: Andreas Wiedemann
Mit dem Gehalt kommt Kristin gut aus, weil die Lebenshaltungskosten in Tschechien noch niedriger sind als in Deutschland. „Meine tschechischen Kollegen können davon leben, also kann ich das auch.“ Sie lebt in einer möblierten Ein-Zimmer-Wohnung im zentral gelegenen Stadtteil Smíchov. Ihr Einkommen reicht für die Miete, für Kleidung, Lebensmittel und die Freizeit. Ein Auto hat sie nicht. „Dann müsste ich mich bei anderen Dingen doch sehr einschränken. Mir ist es wichtiger, gute Lebensmittel zu kaufen und hin und wieder essen zu gehen.“ Das Autofahren in Prag sei außerdem anstrengend.
Die wichtigste Voraussetzung dafür, dass sie die Stelle bei Siemens bekommen hat, waren ihre Deutsch- und Tschechischkenntnisse. Letztere sind im Einkauf und bei Gesprächen mit den Zulieferern unverzichtbar. Alles andere, wie das betriebswirtschaftliche Know-how, hat man ihr in der Firma beigebracht.
Für viele Arbeitssuchende ist die Lage in Tschechien in den letzten Jahren sehr komfortabel. Die Wirtschaft boomt. Das Wirtschaftswachstum betrug 2007 6,5 %. Die Arbeitslosenquote liegt bei 5 %. Es herrscht ein großer Fachkräftemangel, vor allem in der Automobilindustrie, der Baubranche, im Handwerk und in technischen Berufen. Die regionalen Unterschiede sind allerdings sehr groß. Während in den Kreisen Karvina und Most über 14% ohne Arbeit sind, herrscht in Prag mit einer Arbeitslosenquote von rund 2% Vollbeschäftigung. Die Zeitungen sind voll mit Arbeitsangeboten.
Die Nachfrage kann auch durch Arbeitskräfte aus der Slowakei, der Ukraine und aus Russland nicht mehr ausreichend gedeckt werden. Der Zufluss aus diesen Ländern, vor allem aus der Slowakei, lässt auch deshalb nach, weil diese Länder selbst einen Aufschwung erleben und die Arbeitskräfte zu Hause gut gebrauchen können. Um dem Arbeitskräftemangel zu begegnen hat die tschechische Regierung die Einführung einer Green Card für Menschen aus nicht EU-Ländern ab dem 1.1.2009 beschlossen.
Kristin ist allerdings nicht die einzige Deutsche, die nach Tschechien zum Arbeiten gekommen ist. Ein Mitarbeiter der Deutsch-Tschechischen Industrie- und Handelskammer in Prag bestätigt ein gestiegenes Interesse deutscher Arbeitskräfte. Von einem Massenphänomen lässt sich zwar nicht sprechen. Dennoch ist die Zahl deutscher Arbeitnehmer in Tschechien in den letzten zwei Jahren von rund 1700 auf über 2600 gestiegen. Viele ziehen im Grunde genommen deutschen Firmen hinterher, die ihre Sitze oder Teile der Produktion nach Tschechien verlagert haben, so wie SAP oder eben Siemens.
Kristin fühlt sich bei Siemens sehr wohl. Am Anfang traf sie allerdings auf Verwunderung ihrer tschechischen Kollegen. „Die meisten sind davon ausgegangen, dass ich irgendwelche familiären Bindungen nach Tschechien habe, oder mich hier verliebt habe und deshalb umgezogen bin. Niemand hat sich vorstellen können, dass ich einfach wegen der Arbeit nach Tschechien gekommen bin.“
Ihr Arbeitstag besteht fast ausschließlich aus Telefonaten und dem Verschicken von E-Mails. Gerade für diese Tätigkeit ist es praktisch, dass Kristin deutsche Muttersprachlerin ist. Meistens telefoniert sie nämlich nach Deutschland, Österreich und in die Schweiz. „Mit meinen Arbeitskollegen spreche ich aber nur Tschechisch, obwohl sie fast alle Deutsch können. Das haben wir von Anfang an so gemacht.“
Prag ist aber nicht mehr nur der Ort, an dem Kristin arbeitet. Die goldene Stadt ist mittlerweile ihr Zuhause geworden. Ihr Tschechisch ist perfekt und sie hat viele Freunde gefunden, vor allem unter ihren Arbeitskollegen. Nach der Arbeit trifft sie sich ab und zu mit anderen Deutschen in Prag, die über verschiedene Wege nach Tschechien gekommen und einfach geblieben sind. „Alle drei kamen ursprünglich nur für eine bestimmte Zeit. Kafka hatte schon Recht als er über Prag sagte: Dieses Mütterchen hat Krallen“, sagt Kristin und lacht.
Beruflich hat sich für Kristin das Blatt inzwischen gewendet. Siemens wird das Schienenfahrzeug-Werk in Prag-Zličín im Rahmen seines gesamteuropäischen Sparprogramms im kommenden Jahr schließen. Damit geht auch ein Teil der Industriegeschichte in Prag zu Ende. Mit dem Werk in Zličín, dem ehemaligen traditionsreichen Schienenfahrzeugbaubetrieb CKD, schließt der letzte große Produktionsbetrieb in Prag seine Tore.
Kristin ist traurig über diese Entscheidung. Ein Grund, das Land wieder zu verlassen, ist das aber nicht. „Ich glaube, das wird kein Problem, eine neue Arbeit in Prag zu finden. Ich will erst einmal hier bleiben.“ Prag ist Kristin sehr ans Herz gewachsen. Die Stadt übt nach wie vor eine große Faszination auf sie aus. „Prag ist einfach wunderschön und hat für mich auch nach fast vier Jahren nichts von seinem Zauber verloren. Beruflich habe ich hier aber vor allem das Gefühl, dass der Weg nach oben offen ist. Alles ist möglich. Ich glaube, das, was Tschechien westlichen Ausländern bietet, kann Deutschland mir nicht bieten“, beschreibt Kristin die Offenheit, die sie spürt.