Kommission identifiziert Karadzics Opfer
Der Geruch ist stechend und durchdringend, süßlich und scharf zugleich. Er brennt sich einem unauslöschlich in die Erinnerung ein: Es ist der Geruch von Tod und Verwesung. 3.000 Plastiktüten, alle fein säuberlich beschriftet und nummeriert, lagern in meterhohen Regalen in einer der Leichenhallen der Internationalen Kommission für Vermisste Personen (ICMP) im nordostbosnischen Tuzla. In jedem einzelnen Beutel liegen Knochen oder Teile davon – sterbliche Überreste von Menschen, die im Juli 1995 in der Gegend der ostbosnischen Kleinstadt Srebrenica systematisch ermordet und anschließend in unzähligen Massengräbern verscharrt worden waren. Dem fürchterlichsten Völkermord in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg fielen 8.000 muslimische Männer und Jungen zum Opfer. Für dieses und andere Kriegsverbrechen muss sich der einstige politische Führer der bosnischen Serben ab Montag, 26. Oktober 2009, vor dem Haager Tribunal verantworten.
Auch 14 Jahre danach ist das Trauma von Srebrenica noch längst nicht überwunden. Tausende Menschen wissen bis heute nicht, was mit ihren Liebsten damals passierte. Jetzt wollen die Angehörigen wenigstens die sterblichen Überreste der Ermordeten finden, um diese in Würde bestatten zu können. Dabei setzen sie ihre ganze Hoffnung auf die ICMP. Die 1996 auf Initiative des damaligen US-Präsidenten Bill Clinton gegründete Institution hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Gebeine jener Menschen zu lokalisieren und zu identifizieren, die während der Kriege im ehemaligen Jugoslawien verschwunden sind. Dabei nutzt die ICMP vor allem die DNA-Analyse und vergleicht die aus den exhumierten Knochen gewonnenen Daten mit jenen aus dem Blut der Verwandten der Vermissten. „Die DNA muss zu 99,95 Prozent übereinstimmen, dann gelten die sterblichen Überreste als identifiziert“, beschreibt Pakica Colo von der ICMP die Genauigkeit der Analysen.
Die Fachleute der Internationalen Kommission für vermisste Personen (ICMP) – hier im Re-association Center – versuchen, Tausende von „forensischen Puzzles“ zu lösen. / Norbert Rütsche, n-ost
Nach den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien galten rund 40.000 Menschen als vermisst und verschwunden, etwa 30.000 von ihnen allein in Bosnien und Herzegowina. Seit Beginn der DNA-Analysen im Jahr 2001 hat die ICMP auf dem Gebiet des gesamten früheren Jugoslawien mehr als 85.000 Blutproben untersucht, die Verwandte von fast 28.000 Vermissten gegeben hatten. Durch den Vergleich von Blut- und Knochen-DNA konnten bis heute die sterblichen Überreste von 15.000 Menschen identifiziert werden. Die große Mehrheit – 12.600 – von ihnen kam während des Krieges in Bosnien und Herzegowina um, fast die Hälfte davon starb beim Genozid von Srebrenica.
Srebrenica ist denn auch jener Fall, der die ICMP bis heute am intensivsten beschäftigt. Der Grund dafür ist nicht nur die große Zahl von getöteten Menschen. Vor allem ist es die Tatsache, dass die Leichen zum Teil mehrmals wieder ausgegraben und in neuen, so genannten sekundären oder tertiären Massengräbern erneut verscharrt wurden. „Als ein paar Monate nach dem Massaker Satellitenbilder der Massengräber auftauchten, wollten die Täter die Spuren verwischen“, erklärt ICMP-Mitarbeiterin Jasmina Mameledzija. „Sie kamen nachts, als die Erde nass war. Sie luden mit schwerem Gerät die Leichen auf LKWs, viele Körper zerrissen, fielen auseinander.“ So konnte es vorkommen, dass von ein- und derselben Leiche der Schädel in einem, der Oberschenkel in einem anderen und die Rippen in einem dritten Massengrab landeten. Zudem wurden Tausende von Knochen zermalt, von Planierraupen und Baggerschaufeln. „In einem Fall wurde das Skelett eines Mannes aus Knochen von vier verschiedenen Massengräbern zusammengesetzt“, so Jasmina Mameledzija. „Oft kommt unsere Arbeit einem großen forensischen Puzzle gleich.“
20.000 Identifizierungen als Ziel
Die 1996 ins Leben gerufene Internationale Kommission für Vermisste Personen (ICMP) hat sich zum Ziel gesetzt, bis Ende 2010 die sterblichen Überreste von 20.000 auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien vermissten Personen zu identifizieren. Von den nach den Kriegen als verschwunden gemeldeten rund 40.000 Menschen fehlt noch heute von zirka 14.000 jede Spur – von 10.000 allein in Bosnien und Herzegowina. Für das Jahr 2009 steht der ICMP für den Westbalkan ein Budget von 8 Millionen Euro zur Verfügung. Finanziert wird die Institution vor allem durch Donationen verschiedener Regierungen – in erster Linie aus Europa und Amerika. Auch die Europäische Union und die Vereinten Nation gehören zu den Unterstützern. Deutschland hat der ICMP bislang mehr als drei Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Auf Grundlage der Erfahrungen im ehemaligen Jugoslawien hat die ICMP eine führende Rolle gespielt bei der Identifizierung von Tausenden von Opfern nach den Tsunamis in Asien oder dem Hurrikan Katrina in den USA und ist seit 2008 auch mit einem Ausbildungs-Büro im Irak vertreten.
Im Re-association Center der ICMP in Lukavac bei Tuzla sind Anthropologen damit beschäftigt, diese unzähligen Puzzles zusammenzusetzen. Auf großen Metall-Tischen versuchen die Spezialisten in akribischer Detailarbeit, die Skelette der einzelnen Menschen wieder zusammenzufügen. Die Leichensäcke, die von den forensischen Archäologen direkt aus den Massengräbern angeliefert werden, enthalten sterbliche Überreste, aber auch Kleidungsstücke, Ausweise oder Schmuck von oftmals mehreren Menschen. „Wir können nicht von jedem einzelnen Knochen eine DNA-Analyse machen“, stellt Cheryl Katzmarzyk, die leitende forensische Anthropologin, klar. „Wir ordnen die Knochen auch aufgrund ihres Alters, ihrer Abnutzung oder aufgrund von biologischen oder morphologischen Merkmalen zu.“
Von den Opfern des Massakers von Srebrenica werden nur selten vollständige Skelette gefunden. „Wir freuen uns schon, wenn wir wenigstens einen einzigen Knochen bekommen. Es ist schlimm, wenn nichts gefunden wird“, sagt Nura Begovic nachdenklich. Das aktive Mitglied der Opfervereinigung „Frauen von Srebrenica“ aus Tuzla hat beim Genozid ihren Vater, ihren einzigen Bruder, ihren Schwiegervater und über ein Dutzend weitere Verwandte verloren. „Es ist so wichtig, unsere Liebsten beerdigen zu können, eine Grabstätte zu haben, zu der wir hingehen können.“
„Wir
freuen uns schon, wenn wir wenigstens einen einzigen Knochen bekommen“:
Nura Begovic und die „Frauen von Srebrenica“ suchen noch immer nach
vielen Vermissten des Genozids. Sie haben Tausende von Fotos der Opfer
gesammelt. / Norbert Rütsche, n-ost
Sechs ihrer Angehörigen trug Nura Begovic bereits zu Grabe, von den anderen fehlt bis heute jede Spur. Doch auch von den über 6.200 durch die ICMP identifizierten Srebrenica-Opfern haben bislang erst etwa 3.800 ihre letzte Ruhestätte gefunden. „Die Angehörigen können selbst entscheiden, ob sie die identifizierten Knochen bestatten oder ob sie warten möchten, bis in einem anderen Massengrab vielleicht noch weitere Teile gefunden werden“, erklärt Jasmina Mameledzija und fügt bei: „Viele haben sich entschieden, noch zu warten. Sie wollen den Abschieds-Schmerz nicht mehrmals über sich ergehen lassen.“