Bosnien-Herzegowina

„Dann rissen sie mir meinen Sohn aus den Armen"

Sabaheta Fejzic ist ein Opfer des Völkermordes von Srebrenica, für den Radovan Karadzic ab Montag, 26. Oktober 2009, in Den Haag vor Gericht steht. Beim Massaker hat Sabaheta ihren Mann und ihren einzigen Sohn verloren.

„Radovan Karadzic hat meinen Sohn und meinen Mann getötet, er hat mich aus meiner Stadt verjagt und mir all das genommen, was mich in meinem Leben glücklich machte.“ Sabaheta Fejzic, eine kleingewachsene, schlanke Mittfünfzigerin, sitzt im Büro der „Frauen von Srebrenica“ – und spürt so etwas wie Genugtuung darüber, dass der mutmaßliche Völkermörder nun endlich vor Gericht steht: „Dies bedeutet wenigstens ein bisschen Gerechtigkeit für mich und alle Opfer des Genozids.“



Gedenkstätte Potocari bei Srebrenica: Die Namen erinnern an jeden einzelnen der mindestens 8.000 ermordeten Männer und Jungen von Srebrenica – auch an Saban und Rijad Fejzic. / Norbert Rütsche, n-ost

Karadzic gilt als Drahtzieher des Massakers von Srebrenica im Juli 1995, dem schlimmsten Massenmord in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg (siehe Hintergrund). Sabaheta Fejzic ist eines seiner Opfer, eines von Abertausenden. Ihre braunen Haare hat die schmächtige Frau mit einer Spange streng am Hinterkopf zusammengenommen. Ihre Augen sind müde, der Blick schweift ins Leere. Was um sie herum geschieht, scheint an ihr abzuperlen. Ihre Lebensfreude und ihr Lachen, ihre Unbeschwertheit und ihr Humor, ihr Glaube an die Zukunft und an das Gute – diesen ganzen Reichtum der Seele und des Gemüts, der ihr Leben einst so wunderbar gemacht hatte, wurde 1995 auf einen Schlag vernichtet. Geblieben ist Sabaheta nichts außer Verzweiflung und quälenden Fragen – und die furchtbare Erinnerung an Srebrenica. Sie will davon erzählen, sie muss es, immer wieder. Es ist diese Geschichte, die bis heute jeden Augenblick ihres Lebens ausfüllt, bis in den letzten Winkel ihres Alltags vordringt.

Am 11. Juli 1995 begann für Tausende von Menschen aus Srebrenica der Gang durch die Hölle, auch für Sabaheta. Die damals 39-Jährige erinnert sich, als wäre es gestern gewesen. Pausenlos laufen die Bilder des Furchtbaren durch Sabahetas Kopf, lassen keinen Raum mehr für anderes. Es gibt für sie nur noch Srebrenica: „Einige, vor allem Männer und Jungen, versuchten, zu Fuß durch die Wälder zu entkommen. Mein Mann Saban war einer von ihnen. Die Frauen, Kinder und älteren Menschen retteten sich nach Potocari, zur UN-Basis. Auch ich dachte, dies sei am sichersten. Am Nachmittag kam ich mit meinem Sohn Rijad dort an. Er war 17 Jahre alt. Etwa 20.000 bis 25.000 Menschen drängten sich auf dem Gelände. Hier sah ich, wie die Cetniks Kinder und Alte ermordeten, wie sie Frauen vergewaltigten.“

„Am schlimmsten war die Nacht vom 12. auf den 13. Juli.“ Sabaheta kann sie nie mehr vergessen: „Wir waren Tausende, im Freien und in der zerstörten Fabrik bei der UN-Basis. Aber es war totenstill. Mitten in der Nacht kamen sie, und ich sah, wie sie einem Säugling vor den Augen seiner Mutter den Kopf abschnitten. Die Mutter schrie laut. Und wir alle standen wie auf Kommando gemeinsam auf und schrien so durchdringend, dass man uns bis in die Mitte Serbiens hören konnte. So ging es die ganze Nacht: Zuerst ein einzelner Aufschrei, dann der Schrei Tausender, immer wieder und wieder...“

Am 13. Juli setzte sich fort, was schon am Vortag begonnen hatte. Karadzics Armeechef Mladic und seine Leute hatten alles minutiös vorbereitet: Mit Bussen wurden die in Potocari lagernden Menschen deportiert, bis kurz vor die Frontlinie gebracht, von wo sie sich zu Fuß in Sicherheit bringen mussten. Auch Sabaheta und Rijad machten sich auf zu den Bussen, vorbei an schwerbewaffneten bosnisch-serbischen Soldaten. „Ich hielt meinen Sohn an der Hand. Ein Cetnik zeigte mit dem Finger auf meinen Rijad und sagte: 'Nach rechts!'. Doch wir gingen einfach weiter. Sie brüllten uns an: 'Sagten wir nicht, du sollst nach rechts?' Dann rissen sie mir meinen Sohn aus den Armen.“

Sabaheta atmet tief durch, das Sprechen fällt ihr schwer. Sie presst ihre schmalen Lippen zusammen. Und zwingt sich doch weiterzureden: „Als ich sah, dass ich nichts mehr tun konnte, fiel ich auf die Knie und flehte sie an, sie sollten lieber mich umbringen, das Kind sei doch unschuldig. Die Soldaten fluchten, traten und schlugen mich, einer richtete das Gewehr auf mich und lud es durch. Ich hatte schon mit meinem Leben abgeschlossen. Rijad weinte und sagte: 'Mama, ich bitte dich, geh...!' Dann packte mich ein Soldat und warf mich auf einen Lastwagen, der sofort losfuhr. Ein paar Mal versuchte ich, vom Lastwagen zu springen, um mein Kind wieder zu bekommen. Doch die anderen Frauen hielten mich zurück. Mehrmals fiel ich in Ohnmacht. Das waren die schlimmsten Augenblicke in meinem Leben. Ich wäre lieber tot gewesen, als mein Kind zurücklassen zu müssen.“



„Ich fühle mich allein und einsam. Alles was ich geliebt habe, gibt es nicht mehr.“ Sabaheta Fejzic hat beim Massaker von Srebrenica im Juli 1995 ihren Mann und ihr einziges Kind verloren. / Norbert Rütsche, n-ost


Wenn sie aus ihrer Erinnerung erzählt, ringt Sabaheta um ihre Fassung. Die zierliche Frau bricht immer wieder in Tränen aus. „Ich hatte eine wunderbare Ehe mit Saban. Er war Vorarbeiter im Bergwerk, in dem ich als Buchhalterin arbeitete. Wir waren zufrieden und glücklich. Bis sie mir meinen Sohn nahmen. Dann wartete ich auf meinen Mann, der durch die Wälder hatte fliehen wollte. Ich wartete und wartete. Doch er kam nie an. Schließlich erfuhr ich, dass er auf der Flucht mit einer Gruppe Männer versucht hatte, bei Kalesija eine Asphaltstrasse zu überqueren. Dort war eine Stellung der Cetniks. Sie schossen alle nieder.“ Nur Stücken der Lederjacke und der Trainingsanzugshose von Sabahetas Mann wurden später gefunden.

Es gibt keinen Zweifel mehr, Saban und Rijad sind tot. Sabaheta wird für immer alleine bleiben, alleine mit unzähligen Fragen. Doch sie will mehr erfahren. „Ich frage mich die ganze Zeit: Wie starben sie? Wurden sie vielleicht gefoltert? Jedes Mal, wenn ein neues Massengrab entdeckt wird, gehe ich hin, suche alles ab – Kleidungsstücke, Knochen. Ich habe auch Blut gegeben, damit mein Sohn mit der DNA-Analyse identifiziert werden kann.“


Der Genozid von Srebrenica – der schlimmste Massenmord in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg

Die Kleinstadt Srebrenica liegt im Osten von Bosnien und Herzegowina, unweit der Grenze zu Serbien. Wo vor Kriegsbeginn 1992 rund 8.000 Menschen gelebt hatten, drängten sich im Sommer 1995 mehrere zehntausend Frauen, Männer und Kinder. Es waren muslimische Flüchtlinge und Vertriebene aus den umliegenden Dörfern und Gemeinden, die in Srebrenica Zuflucht gesucht hatten. Die Enklave war 1993 wie Zepa, Gorazde und andere Städte zur „UN-Schutzzone“ erklärt worden. Dennoch litt Srebrenica weiter unter dem Beschuss durch die Cetniks, wie die Eingeschlossenen die serbischen Angreifer nannten. Die Nahrungsmittel wurden knapp, Strom- und Wasserversorgung funktionieren längst nicht mehr. Täglich starben Menschen.

Obwohl die Stadt unter dem Schutz der UN stand, wurde Srebrenica am 11. Juli 1995 von bosnisch-serbischen Einheiten – Soldaten, Polizisten und Paramilitärs – unter dem Kommando von Karadzics Armeechef Ratko Mladic eingenommen. Die niederländischen UN-Blauhelme, deren Stützpunkt im Vorort Potocari lag, waren nicht in der Lage, etwas dagegen zu tun. Die Soldateska tötete in den darauf folgenden Tagen systematisch über 8.000 muslimische Männer und Jungen. Granaten und Minen zerfetzten Unzählige, viele starben an Hunger und Erschöpfung. Frauen, Kinder und Alte wurden unmittelbar nach der Eroberung Srebrenicas mit Bussen aus der Enklave deportiert.

Ende Februar 2007 stufte der Internationale Gerichtshof (ICJ) der UN in Den Haag dieses Massaker als Völkermord ein. Bereits 2001 war das UN-Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) zum gleichen Schluss gekommen. Gegen die mutmaßlich Hauptverantwortlichen für den Genozid, den früheren politischen Führer der bosnischen Serben, Radovan Karadzic, und den ehemaligen bosnisch-serbischen General Ratko Mladic hat das ICTY Anklage erhoben. Mladic ist bis heute auf der Flucht.

In Potocari, wo 1995 der Stützpunkt der holländischen UN-Truppen war und das Morden und die Deportationen begannen, befinden sich heute der Friedhof und eine Gedenkstätte für die Opfer von Srebrenica. 3749 von ihnen haben hier bislang ihre letzte Ruhestätte gefunden.


Vor mehreren Monaten schließlich bekam Sabaheta die erdrückende Gewissheit mitgeteilt: Rijads sterbliche Überreste wurden in einem Massengrab gefunden und identifiziert. Am 11. Juli diesen Jahres hat Sabaheta ihren einzigen Sohn auf dem Gedenkfriedhof in Potocari beigesetzt – zusammen mit 533 weiteren Srebrenica-Opfern bekam er endlich seine würdige letzte Ruhestätte. Doch von Saban fehlt bis jetzt jede Spur. Sabaheta: „Ich habe Angst, dass ich sterbe, ohne dass etwas von meinem Mann gefunden wurde. Aber was kann ich tun? Nur warten, mehr nicht...“ Nach den Tagen des Mordens sind viele Massengräber von den Tätern wieder geöffnet worden, um die Leichen an einem anderen Ort in sogenannten sekundären Gräbern erneut zu verscharren. Viele Körper wurden verbrannt oder in den Fluss Drina geworfen.

Seit 1996 lebt Sabaheta in Sarajewo, zusammen mit ihrer alten Mutter. Ihre Witwen- und Invalidenrenten reichen gerade, um sich über Wasser zu halten. Im selben Haus wohnt auch ihr älterer Bruder. Er ist krank, hat Wunden, die einfach nicht heilen wollen. „Er schlug sich damals durch, kam nach 26 Tagen Flucht durch die Wälder auf dem freien Territorium an“, erzählt Sabaheta. „Doch mein jüngerer Bruder hat es nicht geschafft, er wurde getötet.“

Gleich nach dem Massaker gründeten ein paar mutige Frauen die Opfervereinigung „Bewegung der Mütter der Enklaven Srebrenica und Zepa“. Sabaheta ist eine von ihnen. „Wir taten uns zusammen, weil wir wissen wollen, was mit unseren Liebsten geschehen ist. Als Überlebende bin ich es den Toten schuldig, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Wir kämpfen dafür, dass alle Opfer gefunden und mit Würde bestattet werden. Und dass die Verbrecher, die den Völkermord begangen haben, zur Rechenschaft gezogen werden.“

Jeden Tag arbeitet Sabaheta im Büro der „Mütter von Srebrenica“ in einem tristen Hochhaus in Sarajewo – ehrenamtlich. Die Stimme der Vereinigung wird gehört in Bosnien und Herzegowina, aber auch in der Welt. Unzählige Auszeichnungen, Preise, Dankesurkunden und Fotos an der Wand zeugen davon. Doch am größten sind die Bilder von Exhumierungen, Massengräbern und vom Gedenkfriedhof in Potocari mit Tausenden von Grabmalen. Das Büro ist der einzige Ort, an dem sich Sabaheta mit Besuchern treffen will. Es ist für sie noch am ehesten so etwas wie ein Zuhause. „Ja, hier habe ich Freundinnen. Aber dennoch fühle ich mich allein und einsam. Denn wir sprechen nur über unsere Probleme. Alles, was ich liebte, gibt es nicht mehr. Diejenigen, mit denen ich alles teilte, sind nicht mehr. Unser glückliches Leben ist 1995 erloschen.“


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