Tschechien

Vaclav Klaus öffnet die Büchse der Pandora

(n-ost) – Nein, es war nicht nur eine gute Nachricht, die am vergangenen Wochenende aus Prag kam. Zwar kann Europa in gewisser Weise aufatmen, weil der selbst ernannte EU-Dissident Vaclav Klaus seinen Widerstand gegen den EU-Reformvertrag von Lissabon aufzugeben bereit scheint. Klaus ist dabei das letzte Hindernis. Doch der tschechische Präsident besteht weiter darauf, dass Europa seinem Land in einer Zusatzklausel zu Lissabon die Unantastbarkeit der umstrittenen Benes-Dekrete bestätigt. Damit aber könnte er einen Dominoeffekt auslösen.

Auf der Grundlage der Benes-Dekrete waren in der Nachkriegs-Tschechoslowakei die Sudetendeutschen kollektiv enteignet und vertrieben worden. Im slowakischen Landesteil waren die Ungarn von massenhafter Konfiskation betroffen. Ein Stachel, der bei den Magyaren bis heute tief sitzt.

Dennoch hatte die Slowakei bei den Verhandlungen des EU-Reformvertrages keine Forderung nach einer Garantie für die Benes-Dekrete erhoben, wie sie jetzt von Klaus kommt. In Bratislava war man der Meinung gewesen, dass es keine Möglichkeit gebe, juristisch gegen die Dekrete vorzugehen. Mit dieser Einschätzung lag die Slowakei auf der Linie der Juristen und der Regierenden in Tschechien. Die haben mehrfach in Analysen bestätigt, dass der Lissabon-Vertrag und mit ihm die Charta der Menschenrechte keine retroaktive Wirkung entfalten können. Klaus sieht das anders. Nach seiner Auffassung wird mit Lissabon der Europäische Gerichtshof in Luxemburg zu einer Art europäischen Verfassungsgerichts. Dort könnten dann seiner Meinung nach „von der Geschichte unbeleckte Richter aus Spanien oder Malta“ die Benes-Dekrete hinter dem Rücken Tschechiens zu Fall bringen.

Wenn aber Prag A sagt, muss Bratislava zwangsläufig B sagen. Anders formuliert: Wenn Tschechien eine Garantie für die Unantastbarkeit der Benes-Dekrete bekommt, muss auch die Slowakei als der zweite Nachfolgestaat der Tschechoslowakei eine solche Garantie einfordern. Anderenfalls, so der slowakische Premier Robert Fico am Wochenende in einem Interview des Tschechischen Fernsehens, käme die Slowakei „in eine komplizierte Lage“. Sudentendeutsche – aber vor allem Ungarn – könnten versucht sein, gegen eine im Vergleich zu Tschechien „wehrlose“ Slowakei zu klagen.

Abgesehen davon, dass dies alles rein theoretische Spielchen sind, die mit dem Lissabon-Vertrag nicht wirklich etwas zu tun haben – Fico kann angesichts der Forderung von Klaus gar nicht anders reden und handeln. Er musste sich zwangsläufig am Klaus‘schen „Bazillus der Benes-Dekrete“ anstecken, wie es die tschechische Wirtschaftszeitung Hospodarske Noviny formulierte. Das Blatt fürchtet aber zurecht, dass Klaus mit seinem Bazillus eine ganze Epidemie auslösen könnte. Es sei nicht vorstellbar, dass etwa Ungarn ruhig zusehen werde, wie die Rechte ihrer einst enteigneten Mitbürger geschleift würden. Auch Österreich hat bereits signalisiert, dass es derlei nicht einfach hinnehmen würde. Deutschland schweigt bisher vorsichtshalber zu diesem Thema.

Dieses Schweigen hat eine gewisse Logik. 1997 hatten die Bundesrepublik und Tschechien in der historischen Deutsch-Tschechischen Erklärung eine Art Schlussstrich unter die Geschichte gezogen. Der Tenor der Deklaration ist eindeutig: Leid und Unrecht der Vergangenheit dürften die künftigen Beziehungen nicht mehr belasten. Für Tschechien unterzeichnete übrigens Vaclav Klaus das Dokument. Mit seiner jetzigen Forderung vergeht er sich nach Meinung auch vieler tschechischer Politiker an diesem Grundsatz. Und das nicht einmal aus Überzeugung, dass Tschechien tatsächlich Eigentumsforderungen der Sudetendeutschen befürchten müsse. Klaus habe die sudetendeutsche Karte vor allem gezogen, um den Ratifikationsprozess für den Vertrag von Lissabon hinauszuzögern.

Es wäre freilich sträflich, Klaus Klugheit abzusprechen. Es war ihm klar, dass er mit seiner Forderung die Büchse der Pandora öffnet. In Brüssel wird man sich jetzt den Kopf zerbrechen, wie man mit möglichen Forderungen der Slowakei, Ungarns, Österreichs und Deutschland umgehen soll. Alle diese Länder haben Lissabon bereits ratifiziert. Sind da Nachverhandlungen überhaupt noch möglich, fragen sich ratlos die Experten.

Hospodarske Noviny bedauert, dass Europa mit der neuen Debatte wieder ins Jahr 2002 zurückgeworfen wird. Seinerzeit hatte der damalige tschechische Premier Milos Zeman die Sudetendeutschen als „Fünfte Kolonne Hitlers“ bezeichnet. Sie hätten mit der Enteignung und Vertreibung die Strafe erhalten, die sie verdient hätten, sollten froh sein, dass sie mit dem Leben davon gekommen wären. Diese zynischen Worte führten seinerzeit zu einer schweren Verstimmung mit der Regierung in Berlin. Bundeskanzler Gerhard Schröder war über seinen sozialdemokratischen Partner Zeman so verstimmt, dass er einen lange geplanten Besuch in Tschechien absagte.

Und gleichzeitig erhob in Budapest der damalige Premier Viktor Orban die Forderung, die Benes-Dekrete abzuschaffen. Der künstlich hochkochende Nationalismus drohte alles zu vergiften. Ein solches Szenarium ist auch heute nicht ausgeschlossen. Vaclav Klaus könnte sich im zweifelhaften Ruhm sonnen, dies hervorgerufen zu haben.

Hans-Jörg Schmidt
ENDE

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