Erst Familie, dann der Rest
Beinahe neidisch schauten sich die Mitarbeiterinnen der deutschen Partner-Kita aus Dessau den integrativen Kindergarten Nr. 21 im südpolnischen Gliwice an. „Das ist kein Kindergarten, sondern eine Universität, meinten sie“, erzählt Izabela Truszkowska-Bodyńska, die Direktorin des Kindergartens Nr. 21. Kein Wunder: Alle dort arbeitenden Erzieherinnen haben eine Hochschulausbildung mit etlichen Zusatzqualifikationen.
Die resolute Direktorin war in Polen vor 25 Jahren Pionierin bei der Integration von Kindern mit Behinderung in Regel-Kitas. Ihre Kita arbeitet heute eng mit einer integrativen Schule der Stadt zusammen. Ja, auch das Prestige von Kindergärten und Erzieherinnen sei in Polen in den letzten Jahrzehnten gestiegen, eine Hochschulausbildung für Betreuungspersonal ist mittlerweile Pflicht, sagt Truszkowska-Bodyńska. Und von einer geringen Betreuungsquote könne man zumindest in der 200.000-Einwohner-Stadt Gliwice nicht sprechen. „Problematisch ist eher die Situation in den Dörfern, wo in den 90er Jahren Kitas geschlossen wurden."
Die nackten Zahlen geben ihr indes nur teilweise Recht. Denn lediglich drei von zehn der 3- bis 6-Jährigen in Polen besuchen einen Kindergarten. Der EU-Durchschnitt liegt dreimal so hoch, nämlich bei 84 Prozent. In ländlichen Gebieten Polens ist die Quote noch niedriger – dort besucht nur jedes achte Kind einen Kindergarten. Und während in Deutschland eine intensive politische und gesellschaftliche Debatte darüber stattfindet, wie die Betreuung von unter Dreijährigen in Krippen auf eine Quote von über 30 Prozent gehoben werden kann, ist davon in Polen nicht die Rede. Ganze zwei Prozent eines Jahrgangs besuchen die Krippe – der mit Abstand niedrigste Wert in der EU, wo im Schnitt etwa 26 Prozent der Kleinsten professionell betreut werden.
Grund für diese Unterschiede sind gesellschaftliche und kulturelle Besonderheiten des Landes. So ist in Polen die Großmutter für viele junge Eltern nach wie vor alles andere als eine Not-Betreuerin. Zudem wird das Familienbild immer noch stark durch die katholische Kirche geprägt, und diese propagiert in erster Linie die Bedeutung der elterlichen Betreuung. Wegen dieser Unterschiede war die Betreuungsquote auch im realsozialistischen Polen nicht annähernd so hoch wie etwa in der DDR. In den 90er Jahren wurden im Zuge der weitreichenden Transformation in der polnischen Gesellschaft zusätzlich Kindergarten- und Krippenplätze reduziert. Freilich kam es auch in Polen seit 1989 zu einem drastischen Einbruch der Geburtenzahl – da ist das Land sehr wohl vergleichbar mit dem in den neuen Bundesländern.
Die zahlenmäßig schwach entwickelte vorschulische Betreuung in Polen hängt mit der Einstellung der meisten Polen zu Familie und familiärem Zusammenhalt zusammen. Nach Angaben von Aldona Żurek, einer auf Familienstrukturen spezialisierten Soziologin, ist selbst die wachsende Zahl der polnischen Singles in ihren Einstellungen anders als jene in Ländern Westeuropas. So strebten ungleich mehr polnische Alleinlebende feste Partnerschaften an und seien eher Traditionalisten – mitunter aufgrund jahrhundertelang tradierter Muster.
Auch seien berufliche Erfolge und Freunde für sie wichtig, aber: „Ob wir das Leben gemeistert haben, betrachten wir immer im Kontext von Familie. Der Westen legt viel mehr Wert auf individuelle Werte. Familie zählt dort auch, aber sie hat nicht den fundamentalen Stellenwert.“ In Zahlen ausgedrückt: im Jahr 2008 haben laut einer repräsentativen Umfrage 92 Prozent der Polen geäußert, dass man zum wirklichen Glück eine eigene Familie braucht. In Deutschland sagten zwei Drittel der Erwachsenen in einer ähnlichen Umfrage, dass für sie eine Familie zum Glücklichsein dazugehöre, bei jungen Deutschen zwischen 18 und 25 Jahren sind es laut der Shell-Studie 2006 rund 72 Prozent.
Ein weiterer Grund für diese in Polen auf Familien orientierte Einstellung liegt womöglich darin, dass das Land – ähnlich wie etwa Italien und Spanien – zu den so genannten „low trust familistic societies“ gehört. Nach Meinung des US-amerikanischen Philosophen und Politologen Francis Fukuyama sind das Gesellschaften, in denen starke familiäre Bindungen mit einem relativ hohen Misstrauen gegenüber dem Staat und seinen Institutionen einhergehen. Fundiert wurde die Skepsis der Polen gegenüber dem Staat zusätzlich in der Zeit der polnischen Teilungen zwischen 1795 und 1918. Die staatliche Nicht-Existenz Polens hielt die Verweltlichung der Gesellschaft auf – und stärkte zugleich die Rolle von Kirche und Familie auch als Träger nationaler Merkmale, wie Sprache und Kultur. Im Realsozialismus fand ein nochmaliger Rückzug in die kleinsten Zellen der Gesellschaft statt – in die Familien- und Freundeskreise. Und in das Kirchenleben. Dort wurden wichtige kulturelle Normen gesetzt.
Doch Kultur ist fließend. Und so gibt es in Polen bei aller Orientierung auf Traditionen starke Veränderungen in der Einstellung zur Familie. Der Anteil von alternativen Familienmodellen etwa steigt: Patchworkfamilien, Geschiedene, allein Erziehende, Paare mit unehelichen Kindern. Auch das Zusammenleben ohne Trauschein wird immer beliebter. Es ist indes ein Modell, dass noch vor Kurzem gesellschaftlich geächtet und als „Konkubinat“ gebrandmarkt wurde, wie die Entwicklungspsychologin Anna Brzezińska sagt. Im Prinzip gehen in Polen seit 1989 ähnliche Veränderungen in den Strukturen von Familie und Zusammenleben einher, wie sie in Westeuropa seit den späten 1960er Jahren stattfinden.
Und so funktioniert selbst in Polen die „Institution Oma“ nicht immer. Auch in Polen wird der Kinderwunsch aufgeschoben. Wie bei Piotr und Ewa Nowacz. Die Beiden sind Anfang dreißig, berufstätige Akademiker, reiselustig. Nun wollen sie ein Kind haben, die Betreuung würde die Freiberuflerin Ewa übernehmen. Sie legt sich ihre Arbeit bereits jetzt so zurecht, dass sie nach einer Geburt relativ schnell wieder arbeiten könnte, wenn auch eingeschränkt. Gegen Krippen hat sie keine objektiven Einwände, aber sie fühlt, dass sie doch nicht das passende Betreuungsangebot sind. „Wir würden wohl eine Babysitterin engagieren“, sagt die freie Referentin, die Weiterbildungskurse anbietet – unter anderem für Mütter, die nach einer längeren Babypause wieder in den Beruf einsteigen wollen.
Die Wahl der Nowaczs könnte dennoch auch auf die integrative Kita 21 in Gliwice fallen. „Die Eltern dürfen mittlerweile die Tagesstätte für ihre Kinder frei wählen und machen davon bewusst Gebrauch“, sagt Leiterin Truszkowska-Bodyńska. Die Chefin der Kita-„Universität“ hat aus ihren Kontakten mit der deutschen Partnereinrichtung im Übrigen noch eines gelernt: „Wir hatten früher unnötig Komplexe, dass wir unseren Kindern vielleicht weniger bieten als Kollegen im Westen. Dabei brauchen wir uns mit unserem Konzepten und unserer Arbeit nicht zu verstecken.“