DER VERGESSENE HOLOCAUST
(n-ost) – Besonders nachts schleichen sie sich heran: Die Bilder von den langen Hungertagen, vom ständig lauernden Tod. Nur Schlaftabletten helfen der 86-jährigen Miriam Bercovici, um ein wenig Ruhe zu finden. Sie hat den rumänischen Holocaust überlebt. Doch ihre Geschichte interessierte viele Jahre niemanden, denn der Genozid an Juden und Roma in Rumänien wurde viele Jahre geleugnet. Ein neues, modernes Mahnmal, das am 8. Oktober in Bukarest eröffnet wird, soll das ändern. Doch auch ihm fehlen Geschichten wie die von Miriam Bercovici.
Die Holocaust-Überlebende Miriam Bercovici in ihrer Bukarester Wohnung. Foto: Annett Müller
Es ist ein Sonntag im Oktober in Campulung Moldovensc, einer Kleinstadt im Norden Rumäniens. 1941. Alle Juden des Ortes müssen sich zum Abtransport versammeln, der Rest der Einwohner kommt zum Gaffen. „Einen Spießrutenlauf“ nennt Bercovici den Weg zum Güterbahnhof: „Sie haben uns angespuckt. Ich habe sie alle gekannt, sie waren zuvor unsere Nachbarn und Freunde.“ Bercovici war damals 18 Jahre alt. Zeit fürs Gymnasium, sie war schon immer Klassenbeste, Zeit für eine erste Liebe.Doch kommt der Zweite Weltkrieg dazwischen, in dem Rumänien zum Kriegsverbündeten von Deutschland wird. Die rumänische Militärdiktatur unter Ion Antonescu weigerte sich zunächst, die landeseigenen Juden an die deutschen Kriegsverbündeten auszuliefern, in die KZs von Auschwitz und Belzec. Doch war das keine Rettungsmaßnahme. Stattdessen ordnete Antonescu einen eigenen Holocaust an. Die rumänische Armee deportierte Hunderttausende Juden und Roma östlich des heutigen Rumänien. Dass sich die über 100 rumänischen Ghettos, Zwangs- und Arbeitslager deutlich von den auf Massenmord ausgerichteten deutschen Vernichtungslagern unterschieden, machte sie für die rumänischen Opfer nicht erträglicher: Sie sollten sterben – ob durch willkürliche Massenexekution oder Hunger.Miriam Bercovici und ihren Eltern stand 1941 eine wochenlange, qualvolle Verschleppung bevor, die sich das rumänische Militär bezahlen ließ. „Ihr Juden habt doch immer Geld dabei“, drohten die Soldaten an den Bahnhöfen. „Zahlt oder Ihr werdet erschossen.“ Vermutlich wurden die Bercovicis und ihre Leidensgenossen nicht gleich umgebracht, weil das Militär wusste, dass es an ihnen verdienen konnte, glaubt Bercovici heute. Sie kam ins Ghetto Djurin. Der Ort liegt heute in der Ukraine. 4.000 Juden wurden dort gefangen gehalten, sie sollten grausam an Hunger sterben. Bercovici vertraute ihre Todesängste einem Tagebuch an: „Wenn ich laut gesagt hätte: ‚Ich kann nicht mehr’, wäre ich sofort erschossen worden.“ Sie ist dem Hungertod entkommen, doch bis heute quälen sie Schuldgefühle, „denn die, die sterben mussten, waren doch genauso unschuldig wie ich“.Jahrzehntelang ist der systematische Genozid in Rumänien geleugnet worden. In der Ceausescu-Zeit wurde er zunächst totgeschwiegen, das hätte sich jedoch mit der Wende von 1989 umgehend ändern können. Doch statt einer kritischen Aufarbeitung setzte ein regelrechter Kult um Militärdiktator Antonescu ein. Von Politikern aller Couleur und den Medien wurde er als Nationalheld verherrlicht, der sich für das Vaterland aufgeopfert habe. Denkmale und Büsten entstanden, Straßen wurden nach ihm benannt. Dass hingegen ein Holocaust stattgefunden hatte, wurde negiert.
Ein Wandbild zeigt den Militärdiktator Antonescu noch heute in einer orthodoxen Kirche von Bukarest, die er finanziert hatte. Foto: Annett Müller
Eine internationale Expertenkommission unter Vorsitz des jüdisch-rumänischen Friedensnobelpreisträgers Elie Wiesel legte 2004 eine umfassende Beweissammlung vor. Sie kam zu dem Schluss, dass beim rumänischen Holocaust mindestens 280.000 Juden und 11.000 Roma getötet wurden. Seither wird im Geschichtsunterricht überhaupt erst das Holocaust-Thema behandelt – doch nur, wenn der Geschichtslehrer auch darauf eingeht. Die meisten Lehrer schweigen verlegen, weil sie von diesem Teil der Vergangenheit nichts in ihrer Geschichtsfakultät erfahren. Generell ist das kollektive rumänische Gedächtnis an dieser Stelle immer noch sehr lückenhaft. Bei Umfragen zeigt sich, das Rumänen zwar über den Massenmord der Nazis Bescheid wissen, doch über das eigene Land heißt es oft: „Nein, einen Holocaust gab es bei uns nicht, das wüssten wir doch.“ Für den Bukarester Historiker Andrei Pippidi, der in der internationalen Expertenkommission saß, ist das Unwissen enttäuschend, doch es verwundert ihn nicht: „Uns ist inzwischen klar, wie schwer es ist, neue Erkenntnisse in einem Gedächtnis anzupflanzen, das vollkommen gerodet wurde. Das ist kein Prozess, der sich von heute auf morgen vollzieht.“An den systematischen Genozid erinnert von Donnerstag (8.10.) an ein Holocaust-Mahnmal in der Innenstadt von Bukarest. Den Mittelpunkt der Gedenkstätte bildet eine Gedächtnishalle. Einige Meter ist sie ins Erdreich eingelassen, als Ausdruck dafür, dass der Besucher in die Vergangenheit hinabsteigt. Es ist eine graue Halle – äußerlich aus Beton, im Inneren aus poliertem Granit. Durch ein perforiertes Dach dringt natürliches Licht von außen ein. Es wirft eine Schraffur, die mit der Zeit auf dem kalten Gestein wandert. Eine Metapher für Vergänglichkeit. Der rumäniendeutsche Bildhauer Peter Jacobi hat die Halle entworfen, die ein Massengrab verkörpern soll und zugleich als Meditationsort gedacht ist. Das abstrakte Mahnmal ist eine Neuheit für Bukarest, einer Stadt, in der es vor allem phantasielose Statuen von Revolutionskämpfern oder Gelehrten gibt.In das Holocaust-Mahnmal ist ein Schuldbekenntnis des rumänischen Staates eingraviert. Die Zahl der Opfer ist notiert, ebenso wie die Deportationsorte. Leugnen lässt sich der Holocaust damit nicht mehr. Doch die nüchternen Fakten werden wohl kaum Scham und Trauer auslösen. Und als Aufklärungsmittel ist der Text zu knapp gehalten. Was dem Mahnmal fehlt, ist ein Dokumentationszentrum mit den Geschichten der Opfer, so wie das beim Berliner Mahnmal gibt.Miriam Bercovici hätte solch eine Geschichte zu erzählen. Eine rumänische Tageszeitung veröffentlichte unlängst ihre Erinnerungen, ebenso die von anderen rumänischern Holocaust-Überlebenden. Anschließend kommentierten Zeitungsleser auf der Website, dass die Geschichten erfunden seien. Bercovici macht so etwas wütend: „Ich bin doch wie andere Überlebende der beste Beweise für den rumänischen Holocaust. Wir haben das Verbrechen mit eigenen Augen gesehen.“
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