Lettland

Ein neues Gesicht für Riga

Mit viel Geduld erklärt Natscha Bukowa ihrem Schüler, wie er das russische „r“ richtig rollen kann. Die zierliche Frau mit dem dunklen Pagenkopf hat Tisch und Stühle in ihrem kleinen Studio zur Seite geschoben und sich dem Erstklässler gegenüber aufgestellt. Der Junge beobachtet aufmerksam, wie Natascha tief Luft holt, ihre Lippen formt, die Zunge rollt, und spricht ihr sorgfältig nach. Natascha Bukowa ist Russin und war bis vor kurzem an einer Grundschule in Riga angestellt. Aber wegen der weltweiten Wirtschaftskrise sind zahlreiche Schulen geschlossen oder zusammengelegt worden. Tausende Lehrer wurden arbeitslos, sogar Logopäden wie Natascha haben ihre staatliche Anstellung verloren. Deshalb hat sie jetzt ihr privates Nachhilfestudio eröffnet. Sie fühle sich vom Staat verraten, wie zu Beginn der Unabhängigkeit 1991, sagt Natascha. Aber sie habe gelernt, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. „Damals war ich begeistert, dass Lettland die Sowjetunion verlassen hat“, sagt sie. Aber bald sei die Enttäuschung gekommen, weil sie als Russin ohne Lettischkenntnisse keine lettische Staatsbürgerschaft erhalten habe. Deshalb blieb sie staatenlos. „Ich bin in Lettland geboren und werde trotzdem als Russin diskriminiert.“ Die weltweite Wirtschaftskrise allerdings hat den Fokus verschoben. Denn unter dem Abschwung leiden sowohl Russen als auch Letten. Vielleicht sei deshalb ein Russe zum neuen Bürgermeister von Riga gewählt worden, glaubt die Logopädin.In Lettland ist jeder Dritte russischer Herkunft. Die meisten sind wie Nataschas Eltern in sowjetischer Zeit nach Lettland gekommen. Im Alltag herrschte die russische Sprache vor. Seit Lettlands Unabhängigkeit 1991 haben die Russen alle Privilegien verloren, und Lettisch wurde Staatssprache. Heute kann jeder Einwohner einen lettischen Pass erhalten, vorausgesetzt, er besteht eine Prüfung in lettischer Sprache. Trotzdem besitzen mehr als 400.000 Russen in Lettland noch immer keine lettische Staatsbürgerschaft und also auch kein Wahlrecht.In den Wahlkämpfen der Vergangenheit spielten vor allem nationale Fragen eine Rolle. Politiker russischer Herkunft waren höchstens Abgeordnete im lettischen Parlament. Seit dem 1. Juli hat sich das geändert: Zum ersten Mal in der 800-jährigen Geschichte Rigas zog ein Russe in das Rathaus der let-tischen Hauptstadt ein: Nils Uzakovs, 33 Jahre jung, blond und hoch gewachsen.


Nils Uzakovs, 33 Jahre jung und russischer Nationalität, ist Bürgermeister von Riga. Foto: Birgit Johannsmeier

„Mir haben sehr viele Letten ihre Stimme gegeben“, sagt Nils Uzakovs. Das ist neu in der lettischen Politik. Die Leute haben nicht nach der Nationalität entschieden, sondern sie waren von den sozialdemokratischen Werten der Partei „Harmoniezentrum“ überzeugt. Diese Werte hat Nils Uzakovs  während seines Studiums in Dänemark kennen gelernt. Bereits im Wahlkampf hat er betont, dass er sich während seiner Amtszeit vor allem an den Skandinavischen Ländern und ihrer sozialen Gerechtigkeit orientieren wolle. „Deshalb werden die Sozialämter in Riga wieder auf Russisch informieren“, betont er. „Die Ärmsten der Gesellschaft sollen nicht aus Mangel an Sprachkenntnissen ausgegrenzt werden. Ich bin Teil einer neuen Generation, die unserer Hauptstadt ein neues Gesicht geben wird.“Der Sieg von Nils Uzakovs in Riga sei nicht unerwartet gekommen, erklärt die Soziologin Brigita Zepa. Der neue Bürgermeister sei nicht nur jung und intelligent, er spreche sogar sehr gut lettisch und sei in der Politik noch ein unbeschriebenes Blatt. „ Die Letten waren müde von den alten Parteien, von den konservativen und nationalen.“ Weil sich deren Spitze ihrer Meinung nach nur bereichert habe und verantwortlich für die Krise sei. „Aber Nils Uzakovs kennen wir noch nicht. Und er will sich um die Sorgen der kleinen Leute kümmern“ sagt Zepa. „Er war der einzige, der über soziale Hilfe gesprochen hat. Es ging nicht mehr um Letten oder Russen, sondern darum, dass das Leben aller besser wird.“


Im Rathaus von Riga regiert seit 100 Tagen der erste russische Bürgermeister. Foto: Birgit Johannsmeier

In Riga verfolgen die Leute sehr aufmerksam, wie sich ihr neuer Bürgermeister bemüht, die marode Haushaltslage zu verbessern. Investitionen sollen her, damit sich die lettische Hauptstadt für osteuropäische Firmen zu einer Drehscheibe in den Westen entwickelt. „Ich bin Lettin“, sagt eine Frau, die mit Mann und Kind über den Rathausplatz spaziert. „Ich habe Uzakovs gewählt, weil er ein neues europäisches Denken hat. Vielleicht werden sogar unsere Beziehungen zu Russland wieder besser werden.“ Sie sei Russin und für Uzakovs, weil die alten Politiker versagt haben, sagt eine andere Frau, die mit ihrer Freundin einen Tee auf dem Rathausplatz trinkt. „Ich bin arbeitslos und ohne Perspektive. Aber Uzakovs sind auch wir Russen wichtig.“ Seit Amtsantritt hat Nils Uzakovs bereits zahlreiche Delegationen aus den GUS Staaten und aus Moskau empfangen. Die lettische Fluggesellschaft „Airbaltic“ hat bereits begonnen, ihr Streckennetz in Richtung Osten und Mittelasien auszubauen. Rund um den Flughafen Riga soll ein riesiger Industriepark entstehen. Ein Angebot an fernöstliche Unternehmen, in der russischsprachigen Umgebung des EU-Staates Lettland leicht Geschäfte mit Westeuropa einzugehen. Auch Rigas Industriehafen soll ausgebaut werden. Erst in der letzten Woche hat der Bürgermeister vorgeschlagen, 30 Hektar des Hafens an Moskau zu verkaufen, um russische Industrieansiedlungen in Lettland zu fördern.Die Logopädin Natascha Bukowa hofft, dass der neue Bürgermeister seine Wahlversprechen einlösen wird. Vielleicht bekomme er ja tatsächlich ein zwangloses Miteinander von Russen und Letten in Riga hin, hofft sie. Dann nehme auch sie eines Tages die lettische Staatsbürgerschaft an.


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