Litauen

Drei Nationen, drei Erinnerungen

„Die Täter waren Nazis und ihre örtlichen Helfer.“ Der Satz, so einfach und doch so schwierig, steht am Denkmal für die getöteten Juden von Vilnius (deutsch Wilna) in Ponar. „Ihre örtlichen Helfer“, liest Fania Brancovskaja kopfschüttelnd vor. „Das hat viele Wege gemusst, um hinzuschreiben die zwei Wörter.“ Für die 87-jährige Jüdin ist die Erinnerung an den Holocaust und den Widerstand gegen die Nazis zur Lebensaufgabe geworden. Noch immer aktuell ist die Debatte um die Verantwortung der litauischen Kollaborateure.

70.000 Juden wurden zwischen 1941 und 1944 in Ponar, einem Ort südwestlich von Wilna, erschossen. In der sowjetischen Zeit suchte man auf dem Denkmal in Ponar vergeblich nach dem Hinweis, dass dort Juden ermordet worden. „Die Opfer, so stand es da, waren unschuldige sowjetische Bürger“, erzählt Brancovskaja. Erst mit dem demokratischen Litauen wurde ein entsprechender Hinweis angebracht. Noch schwieriger war die jüngste Änderung im Gedenken an die Opfer von Ponar. Doch nun steht es da, schwarz auf weiß: Die Täter waren die Nazis und ihre örtlichen Helfer.

Siebzig Jahre nach seinem Beginn ist die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in der litauischen Hauptstadt noch immer geteilt. Für die polnische Minderheit beginnt der Krieg am 17. September 1939. Zweieinhalb Wochen nach dem Deutschen Angriff auf Polen marschierte die Rote Armee im Osten des Landes und damit auch im Wilnaer Gebiet ein. Zuvor waren am 23. August mit der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Pakts und seinem geheimen Zusatzprotokoll die Einflusssphären in Mittel- und Osteuropa aufgeteilt worden.

Mit Wilna aber schien Stalin zunächst nichts anfangen zu können. Kaum erobert, gab er die Stadt den Litauern als Hauptstadt zurück – ein Danaergeschenk, wie sich später erweisen sollte, denn am 15. Juni 1940 kamen die Sowjets erneut, und Litauen wurde mit Wilna Teil der Sowjetunion. Dass die Litauer die alte und neue Hauptstadt aus der Hand der Russen empfangen haben, darüber spricht man heute nicht so gern in Wilna. Umso mehr dagegen wird die Erinnerung an den 15. Juni 1940 wach gehalten. Mit der ersten Besetzung durch die Sowjetunion, der 1944 kurz vor Kriegsende die zweite folgte, so das nationale Narrativ in Litauen, begann die Zeit der Verfolgung und Unterdrückung, die erst mit der Unabhängigkeit 1991 endete.

Für die Juden schließlich war die entscheidende Zäsur der deutsche Einmarsch am 22. Juni 1941. Zwei Monate nach der Besetzung Wilnas durch die Deutschen wurde das Ghetto rechts und links der historischen „Deutschen Straße“ eingerichtet, in das auch Fania Brancovskaja ziehen musste. Schon zuvor waren Tausende im Wald von Ponar erschossen worden.

Drei Nationen, drei Daten, drei Erinnerungen. Diese Konkurrenz historischer Narrative lässt sich in einer optimistischen und einer weniger optimistischen Formel auflösen: Die optimistische stammt vom litauischen Dichter Tomas Venclova. Wilna, sagt er, könnte einmal ein Erinnerungsort für alle werden, die dort leben und gelebt haben, ein „Straßburg des Ostens“ also. Doch auch das Kontrastbild wurde bereits bemüht: Wilna als litauisches Sarajewo – die Konkurrenz der historischen Erzählungen als Zerfallsprodukt der multikulturellen Stadt.

Straßburg oder Sarajewo? Für Alvydas Nikžentaitis ist das nicht nur abhängig von den Erzählungen der nationalen Minderheiten. Viel wichtiger sei die offizielle Geschichtspolitik der Litauer. „Kurz nach der Wende“, erinnert sich der Direktor des Historischen Instituts der Universität Wilna, „hat die litauische Erinnerungspolitik alle Ethnien umfasst.“ Historischer Bezugspunkt war das Großfürstentum Litauen, jener Staat, der seit dem 14. Jahrhundert in Personalunion mit dem Königreich Polen existierte, von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer reichte und Litauern wie Polen, Juden, Weißrussen und Ukrainern eine Heimat war. „Nun aber“, sagt Nikžentaitis, „erleben wir eine Renationalisierung der Erinnerung. Nicht mehr das Großfürstentum Litauen ist der Ausgangspunkt der offiziellen Erinnerungspolitik, sondern eine nationale Erzählung, die das litauische Erinnern in eine Opfererzählung presst, der die Sowjets als Täter gegenüber stehen.“

Doch selbst das ist den Architekten nationaler Erinnerungspolitik noch immer zu wenig. Ein neues Gesetz soll verbieten, negativ über den Kampf der litauischen Partisanen gegen die Sowjetunion berichten zu dürfen. Nikžentaitis weiß, dass damit schnell auch die Forschung ins Visier der Justiz geraten kann. „Wenn das Gesetz beschlossen wird“, prophezeit er, „dann kann es sein, dass einer meiner Mitarbeiter ins Gefängnis muss.“ Einer seiner Kollegen arbeitet an einer Dissertation, in der untersucht wird, welche Opfergruppen es beim Partisanenkampf gab. „Das ist alles gut mit Fakten belegt, und das Ergebnis lautet: Die meisten Opfer gab es in der Zivilbevölkerung und nicht bei der Roten Armee. Es gibt also auch eine andere Seite der Wahrheit.“

Doch die kommt im offiziellen Erinnern nicht vor. Nicht weit von Nikžentaitis’ Institut steht das ehemalige KGB-Gebäude. Heute beherbergt es das staatliche Museum für die Opfer des Genozids. Das erinnert aber nicht an die 220.000 Juden in Litauen, von denen nur 12.000 überlebt haben. Gewidmet ist es vielmehr den 140.000 Litauern, die während der ersten und zweiten russischen Besatzung nach Sibirien deportiert wurden, sowie den 20.000, die in KGB-Haft zu Tode kamen. Aber auch die Heldengeschichten kommen nicht zu kurz. Von 1944 bis 1953, dem Jahr, in dem Stalin starb, kämpften 30.000 Partisanen in den Wäldern gegen die sowjetische Herrschaft. Ihnen ist nicht nur der wichtigste Teil der Ausstellung gewidmet. Gegenüber des Museums für die Opfer des Genozids soll demnächst auch ein Denkmal für die Partisanen errichtet werden – als vorerst letztes Wort der litauischen Erinnerungspolitik.

Sarajewo oder Straßburg? Für Czesław Okińczyc lautet die Zauberformel Euroregion. Okińczyc, einst Politiker, nun Anwalt, gehört zur polnischen Minderheit in Litauen, doch mit ihren Vertretern hat er nicht viel zu tun. Als Abgeordneter im litauischen Parlament, dem Seimas, stimmte er 1991 für die Unabhängigkeit Litauens, das er auch als sein Land betrachtete. Die Mehrheit der Polen hatte im Referendum mit Nein votiert. Dass Czesław Okińczyc ein Wanderer zwischen zwei Kulturen ist, zeigt schon sein Name. Manchmal schreibt er ihn auf polnisch. Am Sitz seiner Anwaltskanzlei am noblen Gedimino-Prospekt prangt dagegen ein goldenes Schild, auf dem sein litauischer Name steht: Česlav Okinčic.


Nicht polarisieren will Okińczyc, sondern versöhnen. Bestes Beispiel dafür sei der litauische Kurort Druskininkai an der Memel, das, wie er es nennt, Baden-Baden von Litauen. „Neunzig Prozent der Kurgäste dort kommen aus Polen, doch keiner fordert mehr, dass Druskininkai dem polnischen Staat angeschlossen werden soll.“ Stattdessen würden die Belange der Region nun, so wie es in Europa Usus ist, in einer Euroregion besprochen. Für Okińczyc liegt das auch daran, dass die Themen der Gegenwart und der Zukunft die der Vergangenheit abgelöst haben: „Polen und Litauen sind in der EU, sie sind in der Nato, sie treiben Handel, da verschwinden viele Probleme von alleine.“

Zukunft, das ist auch das Thema von Indre Joffyte. Als Litauen 1991 unabhängig wurde, war sie neun Jahre alt. Nach und nach erfuhr Indre, dass ihr Vater aus einer jüdischen Familie stammte, aus einem Schtetl bei Plunge, das im litauischen Kuliai hieß und auf jiddisch Kool. Einmal im Jahr  ging ihr Vater in den Wald. „Er besuchte dort ein Denkmal, das gab es schon zu Sowjetzeiten. Für ihn war es ein Ort der Stille.“ Es war der Wald von Ponar, jener Ort, der für die Ghetto-Überlebende Fania Brancovskaja zum Symbol der litauischen Erinnerung an den Holocaust wurde.

Es war nicht einfach für Indre, der jüdischen Geschichte ihrer Familie auf die Spur zu kommen. „Mein Vater sprach nicht gern darüber, so wie auch sein eigener Vater nicht darüber reden wollte.“ Indres Großvater war Jude, ein litauischer Jude, ein Litwak, und er war neben seinem Bruder der einzige aus der Familie, der den Krieg überlebte. Doch Jiddisch hat er nicht mehr gesprochen, es war zu schmerzhaft für ihn.“ Wäre 1991 nicht die Unabhängigkeit gekommen, ist sich Indre Joffyte sicher, wäre sie heute eine ganz normale Litauerin, deren Familiengeschichte nach und nach vergessen worden sei.

Doch die neue Zeit war auch die Zeit der Fragen. Litauen hatte sich nicht nur aus den Fesseln der Sowjetzeit befreit, es wurde auch mit unangenehmen Fakten konfrontiert. Warum haben so wenig Litauer Juden versteckt? Warum gab es so viele Kollaborateure, die den Nazis die Drecksarbeit abnahmen? Warum wurde in der Sowjetzeit über diese Themen geschwiegen? In Indres Familie wurde das Schweigen gebrochen, wenn auch langsam. „Mein Großvater hat zwar nicht über seine Geschichte gesprochen, doch irgendwann hat er jiddisch gekocht. Und kurz bevor er starb, hat er mir die Familienfotos gezeigt. So habe ich erfahren, dass er eine kleine Schwester hatte, die während des Krieges ums Leben kam, im Alter von 15 Jahren.“


„Heute“, sagt die 27-Jährige, „fühle ich mich eher als Jüdin denn als Litauerin“. Nach Israel will sie aber nicht auswandern. „Ich bin ein Litwak“, sagt sie und der Stolz darauf ist nicht zu überhören. Auch wenn Litwaks wie Barbra Streisand oder Woody Allen heute über alle Winde verstreut leben, hätten sie ihre litauischen Wurzeln nie vergessen – und auch nicht ihre Sprache, das Jiddische. Auch Indre Joffyte hat Jiddisch gelernt, am Jiddischen Institut der Universität Wilna, an der Fania Brancovskaja die Bibliothek betreut. Inzwischen hat sie dort sogar einen Job bekommen – als Koordinatorin des alljährlichen Sommerprogramms, bei dem Studierende aus aller Welt zusammenkommen, um die Sprache ihrer Eltern oder Großeltern verstehen zu lernen.

Erinnerung, das ist für Indre Joffyte weniger eine Sache der Politik als die der Sprache. „Noch immer ist die Emigration unter den 5.000 Juden nach Israel sehr stark“, beklagt sie. Zwar gibt es in Wilna eine jüdische Schule. Aber die unterrichtete Jiddisch nur für die, die es wollen. Die Hauptunterrichtssprache ist Hebräisch. Das ist auch der Grund, warum viele Schüler nach ihrem Abschluss nach Israel wollen. Die meisten besuchen die Schule, um auszuwandern und nicht um hier zu bleiben.“ Indre Joffyte aber will bleiben, in einer multikulturellen Stadt. Das Sommerprogramm des Jiddischen Instituts ist für sie eine Art Kontrastprogramm zum neuen Nationalismus und einer ausschließlich litauischen Erinnerung an die Geschichte. „Da kommen sie von überall in die Stadt, aus New York, aus Polen, aus Deutschland und sogar aus Litauen.“


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